Weihnachten unterm Mistelzweig

von Ramona Schweiger

Kürzere und moderne Weihnachtsgeschichte über „Hass-Weihnachten“ und einer möglichen Beziehung.

Wie ich Weihnachten hasste! Alle taten so fröhlich und so nett, und das nur weil Weihnachten war. Die Verkäuferinnen in den Kaufhäusern sprühten förmlich vor Enthusiasmus und Zuvorkommenheit. Doch das war alles bloß gespielt. Und genau das machte mich traurig. Denn meiner Meinung nach sollte man freundlich sein, weil man freundlich sein will und nicht weil man damit einen besseren Umsatz erzielt.

Weihnachten Mistelzweig

Eine meiner Freundinnen dagegen sah zur Weihnachtszeit selbst fast aus wie ein Weihnachtsbaum. In der ganzen Adventszeit bis zu den Feiertagen trug sie nur Sachen, in denen man sie mit einem Dekostück oder dem Christbaum selbst verwechseln konnte. Das bedeutet, ihre Kleidung wird auf die Farben Weiß, Silber, Gold, Grün und Rot beschränkt. Warum? Sie denkt, das sei doch eindeutig. Weiß symbolisiert den Schnee, die Schneeflocken, den Bart des Weihnachtsmannes, die Kleider der Engelein. Silberne oder goldene Kugeln am Weihnachtsbaum glitzern schön und veredeln jede noch so schnöde Tanne. Grün ist wichtig – immerhin sind Bäume grün, der Tannenbaum auch. Und was wäre der Weihnachtsmann ohne sein rotes Kostüm? So ungefähr hatte sie mir das einmal erklärt.

Außerdem hatte meine Freundin Clara bestimmte Prinzipien und Leitsprüche für die Weihnachtszeit – und eine gigantische To-do-Liste! Sie vergötterte Weihnachten. Jeden, den sie in die Finger bekommen konnte, wurde zum Helfershelfer ernannt. Das machte mir zum Glück nichts aus, denn ich half immer gern. Doch dieses Mal hatte sie es wirklich übertrieben! Es war ja nichts Neues, dass sie jedes Jahr bei sich zu Hause eine riesige Adventsparty abhielt, in der sie Spenden sammelte, die den Obdachlosen zugutekommen sollten. Ihre Eltern verreisten über Weihnachten immer und überließen dafür ihrer Tochter das Haus für weihnachtliche Zwecke. Ich glaube, das machen sie nur, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil sie sie allein lassen und Weihnachten nicht mit ihr feiern. Und ich glaube auch, dass meine Freundin das ganz genau weiß und diese Tatsache schamlos ausnützt.

Um die Nachbarschaft und auch andere Leute anzulocken, veranstaltete sie eine Art Tombola, bei der gespendete Preise oder gebrauchte Gegenstände gelost werden konnten (natürlich waren diese noch in einem Top-Zustand, sonst will sie ja keiner). Bisher hatte diese Aktion in ihrer Garage stattgefunden, die dafür weihnachtlich geschmückt war. Und wenn ich sage, weihnachtlich geschmückt, dann meine ich, dass es aussah wie beim Weihnachtsmann zu Hause!

Wie bereits erwähnt, hatte ich mich damit abgefunden. Aber jetzt dachte ich wirklich, Clara hätte endgültig den Verstand verloren. Ihre Haustür stand weit offen und ein paar Elfen verteilten Prospekte, in denen geschrieben stand, was in welchem Zimmer geboten war.

In der Küche konnte man live erleben, wie ein paar Elfen Plätzchen backten und im Arbeitszimmer verpackten weitere Elfen geloste Preise, falls jemand diese verschenken wollte. Vom Wohnzimmerfenster aus sah ich, dass der Gartenteich zum Schlittschuhlaufen genutzt wurde und an einer Bar aus Schnee konnte man Glühwein trinken, wahlweise auch Kinderpunsch. Die Plätzchen, die in der Küche gebacken wurden, konnten im Wohnzimmer verkostet werden. Dazu gab es Tee, Kaffee und Kakao. Ebenfalls im Wohnzimmer stand eine prächtig geschmückte Tanne, unter der nummerierte Überraschungspreise gestapelt waren. Diese waren bereits wie richtige Geschenke verpackt und warteten auf ihre zukünftigen glücklichen Besitzer. Im Esszimmer daneben wurde fleißig gelost. Der Tisch war zur Seite geschoben worden und man hatte die Preise darauf platziert. Der Nikolaus und sein Knecht Ruprecht verkauften die Lose aus ihren Säcken. Viele der anwesenden Kinder fürchteten sich aber vor letzterem und gingen lieber zum Nikolaus.

Sogar das Badezimmer wurde genutzt. Hier saßen Engel, die Kindern oder auch Frauen Locken in die Haare drehten, damit sie liebliche Frisuren bekamen. Die Toilette war zu einem Eispalast hergerichtet und wahrscheinlich der einzige Ort im Haus, der neben der Küche in seiner eigentlichen Funktion benutzt wurde. Im oberen Stockwerk waren die Schlafzimmer und zwei Gästezimmer und ein weiteres Bad mit Toilette. Das Schlafzimmer der Eltern war zugesperrt. Immerhin hatte Clara noch so viel Verstand, dass sie die Privatsphäre ihrer Eltern respektierte! Ihr eigenes Zimmer dagegen glich einer Weihnachtsschatztruhe. Auf dem Bett und auf dem Boden stapelten sich allerlei Sachen, mit denen man dekorieren konnte, sogar Backzubehör, und Klamotten! Ob Weihnachtsmannmützen, Rentierhaarreifen oder Pullis mit weihnachtlichen Mustern. Falls man etwas gekauft hatte, das man anziehen wollte, konnte man sich im Badezimmer umziehen.

Als nächstes ging ich in das Gästezimmer nebenan. Es war zum Spielzimmer geworden, natürlich ebenfalls auf eine weihnachtliche Art und Weise. Ein paar Kinder stritten sich gerade darum, wer als erstes auf dem Rentier reiten durfte. Da ich keine Lust hatte, mir das anzuhören, wanderte ich zum letzten Raum, dem anderen Gästezimmer. Dazu musste ich einen Torbogen passieren, der den Flur zierte. Gerade als ich durch diesen ging, rempelte mich jemand an. „Entschuldigung“, sagten wir beide gleichzeitig. Wir wollten aneinander vorbeigehen, doch Clara stand plötzlich hinter mir und sagte: „Stopp!“ Ich wunderte mich, was sie wohl hatte, aber sie grinste bloß und zeigte mit dem Finger nach oben. Dort hing ein Mistelzweig. Der junge Mann und ich schauten uns an, plötzlich verlegen, und etwas zögerlich näherten wir uns einander und küssten uns auf die Backe. „So geht das aber nicht“, warf meine Freundin dazwischen und schaute grimmig. Da ich mich nicht mir ihr anlegen wollte und er scheinbar auch nicht, wagten wir noch einen Versuch. Ich sah, dass er genauso gehemmt war wie ich. Wir küssten uns kurz auf den Mund und schauten uns perplex an. Ob er wohl das gleiche fühlte wie ich? Mir war fast schwindelig und flau im Magen. Mein Gesicht musste knallrot sein, so heiß wie mir war. Ehe ich noch etwas sagen konnte, tauchte er ab ins nächste Zimmer und meine Freundin zog mich weiter. „Wer war das?“, wollte sie wissen. Ich antwortete nur:„Ich habe keinen blassen Schimmer.“

Verwirrt folgte ich Clara nach unten und half ihr den weiteren Ablauf zu organisieren. Irgendwie war ich aber nicht ganz bei der Sache. Dieser flüchtige Kuss beschäftigte mich. Ich hätte gern gewusst, wer das war. Ich hatte ihn noch nie hier in der Gegend gesehen und meine Freundin kannte ihn auch nicht, wobei sie normalerweise fast jeden beim Namen kannte, der bei ihrer Party auftauchte. Irgendwie traurig, ich würde diesen Menschen wahrscheinlich nie wieder sehen. Ach, was hatte ich bloß für Gedanken! So schnell wie er verschwand, war ihm das ganze wohl peinlich gewesen. Zu Recht! Ich konnte doch nicht einfach einen Wildfremden küssen! Vielleicht hatte er auch eine Freundin und er war deswegen so verlegen gewesen. Ich würde es nicht erfahren.

Als die Party zu Ende war, blieb ich noch etwas länger, damit Clara nicht alles alleine aufräumen musste. Sie versicherte mir zwar, dass einige Nachbarn für den nächsten Tag ihre Hilfe versprochen hatten, aber ich zweifelte daran, ob sie sich bis dahin noch an ihr Versprechen erinnern würden. Man kann so einiges leicht daherreden. Wahrscheinlich hofften sie bloß, irgendwer würde sich schon kümmern und sie wären dann aus dem Schneider. Ich balancierte die letzten leeren Schachteln, in welcher vorher Trostpreise gelegen hatten, in den Keller. Ich sollte sie in den Abstellraum tragen. Was meine Freundin mit leeren Schachteln wollte, wusste ich nicht, aber ich tat wie mir befohlen. Leider konnte ich ziemlich schlecht sehen, die Schachteln überragten mich um einen Kopf – gut dass ich mich in dem Haus auskannte! Plötzlich stieß ich gegen etwas. Ich setzte die Schachteln ab und schaute – ins Gesicht des Fremden, den ich unter dem Mistelzweig geküsst hatte! „Es tut mir leid, ich bin vorher gleich abgehauen, weil es mir so peinlich war. Ich hoffe, ich habe deine Gefühle nicht verletzt.“ Das war doch nicht möglich, ich musste fantasieren! Die Hitze stieg mir schon wieder ins Gesicht. „Ähm, schon ok. Das macht nichts. Mir war das auch peinlich.“ Er hielt mir die Hand hin und stellte sich vor. Dann meinte er:„ Soll ich dir kurz helfen? Das sieht gefährlich aus mit den Schachteln. Sind sie schwer?“ „Nein. Ich meine, ja, das wäre nett und nein, sie sind ganz leicht.“ Er trug die Schachteln in den Keller und danach fragte er mich, ob ich ihm meine Handynummer geben würde. Wie ich dann erfuhr, war er neu in der Stadt und hatte zufällig diese Weihnachtsaktion gesehen. Deswegen hatte er gedacht, das wäre eine gute Möglichkeit, ein paar Kontakte zu knüpfen und neue Leute kennen zu lernen. Wie man sieht, hatte er sich darin nicht getäuscht! Und er hatte auch keine Freundin – noch nicht.


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