
Heiligabend
1945.
Ein Mann in einem langen Militärmantel und ein kleiner
Junge, neun Jahre alt, stehen ratlos auf dem Hamburger
Bahnhof. Sie wollen nach Bremen weiterfahren, haben jedoch
am Auskunftsschalter erfahren, dass sie den letzten Zug nach
Bremen verpasst haben. Der nächste Zug fährt erst am
nächsten Morgen.!
„Papa, mir ist kalt“, sagt der Junge. „Ja, Joachim, mir
auch. Wir gehen gleich in die Bahnhofsgaststätte und trinken
etwas Heißes.“ „Ich habe Hunger“, quengelt Joachim. „Für
Essen habe ich kein Geld. Außerdem brauchen wir dafür
Lebensmittelmarken. Die sind zu Hause bei Mama. Da müssen
wir den Gürtel halt enger schnallen“, antwortet der Vater
bedrückt. Er blickt ratlos in die Runde und entdeckt ein
Schild: BAHNHOFSMISSION.
!
„Komm, Joachim. Wir versuchen es mal in der
Bahnhofsmission.“ Er nimmt den frierenden und hungrigen
Jungen an die Hand und betritt mit ihm die karitative
Einrichtung.!
„Was kann ich für Sie tun?“, fragt eine ältere Frau
freundlich lächelnd.!
„Können wir hier über Nacht bleiben? Draußen ist es kalt und
heute fährt kein Zug mehr nach Bremen, erst morgen früh
wieder“, sagt Joachims Vater. Die Frau nickt. „Wir sind zwar
voll belegt, aber hier wird keiner abgewiesen, schon gar
nicht Heiligabend. Setzen Sie sich erst einmal.“ Sie zeigt
auf einen langen Tisch, an
dem mehrere Leute sitzen und die beiden Neuankömmlinge teils
neugierig, teils gleichgültig betrachten.!
„Haben Sie Hunger? Es ist noch Suppe da.“ Der Mann nickt
erfreut und zustimmend.!
„Aber keine Steckrüben . . .“, protestiert der Junge laut
und verzieht angeekelt sein Gesicht.!
„Joachim!“, sagt der Vater tadelnd und gibt ihm einen
unwilligen Stoß in den Rücken. Die freundliche Frau zieht
erstaunt und missbilligend ihre Augenbrauen bis zum
Haaransatz hoch. Den anderen Anwesenden sieht man an, was
sie denken, nämlich: Ganz schön verwöhnt, das Bürschchen.
Keiner weiß, weshalb das Kind dieses Gericht verabscheut.!
Steckrüben erinnern Joachim an seine Flucht aus Pommern, die
er Anfang des Jahres als Achtjähriger ohne seine Mutter und
Brüder angetreten hatte. Unterwegs sah er viele schlimme
Dinge, die ein Kind eigentlich nicht sehen sollte. Tote
Menschen lagen am Straßenrand. Keiner konnte sie beerdigen,
weil der Boden tief
gefroren war. Sie waren entweder von Tieffliegern beschossen
und getötet worden oder an Hunger sowie Entkräftung
gestorben. Joachim hörte, wie ein kleines etwa fünf Jahre
altes Mädchen seine Mutter fragte:
„Warum liegen die Leute da im Schnee? Frieren die nicht?“
Die Mutter antwortete: „Nein, die frieren nicht. Sie wollen
nur eine Weile ausruhen und schlafen ein bisschen.“ Die
Kleine gab sich damit zufrieden, aber Joachim wusste, dass
es Tote waren, die man am Straßenrand abgelegt hatte.!
Er musste mit ansehen, wie sich hungrige Menschen aus
verletzten oder vor Erschöpfung zusammengebrochenen Pferden
Fleischstücke herausschnitten, obwohl sie noch lebten. Dazu
kam die erbarmungslose Kälte. Joachim ging die meiste Zeit
zu Fuß, weil er auf dem Wagen beinahe erfroren wäre.!
Seine Tante war eines Tages im Januar 1945 zu ihrer
Schwester, Joachims Mutter, gekommen, um Fleisch und Wurst
abzuholen. Joachims Vater war im Krieg und fiel als
Hauptesser aus. Joachim und seine vier Brüder, von denen
drei jünger als er waren, konnte man noch nicht als
vollwertige Fleischkonsumenten rechnen. Die Mutter arbeitete
auf einem Gutshof in unmittelbarer Nähe und bekam dafür ein
Fleischdeputat, das sie mit ihrer Mutter und ihren beiden
Schwestern teilte, die nicht genug zu essen hatten und in
einem etwa 20 Kilometer entfernten Ort wohnten.!
Die Mutter hatte der Schwester die Taschen so voll gepackt,
dass Joachim ihr tragen helfen musste. Er begleitete seine
Tante nach Hause, weil sie nach der Zugfahrt noch einen vier
Kilometer langen Fußmarsch mit der schweren Last vor sich
hatte. Er sollte über Nacht bleiben und am nächsten Tag mit
dem Gegenzug zurückfahren. Am folgenden Tag hatte man jedoch
die Bahnstrecke gesperrt. Ihnen wurde mitgeteilt, dass der
Zugverkehr eingestellt worden war und sie sich unmittelbar
für den Aufbruch in den Westen bereitmachen sollten. Die
russische Armee war schon sehr nahe und konnte jeden Moment
durchbrechen. So machten sich die beiden Tanten und Joachims
Oma fertig für die Flucht und nahmen den Jungen mit.
Joachim, der keine Kleidung von zu Hause mitgebracht hatte,
bekam eine viel zu große Jacke seines Onkels verpasst, der
irgendwo als Soldat kämpfte. So ausgestattet ging der Junge
mit seiner Verwandtschaft in einem Planwagen auf die lange
Flucht und hoffte, unterwegs seine Mutter und Brüder wieder
zu finden.!
Während der Flucht erlebte Joachim u. a. die Sache mit den
Steckrüben, die er nicht vergessen konnte.
Eines Tages, als der lange Flüchtlingstreck mal wieder
angehalten hatte, um während der Nacht auszuruhen, wurde
Joachim von köstlichen Essensgerüchen magisch angezogen. Er
ging immer der Nase nach und stieß auf einen Trupp Soldaten,
der sich auf dem Rückzug befand. Von einem verlassenen
Bauernhof
hatten sich die Männer ein Schwein geholt und es in aller
Eile geschlachtet. Es war keine Zeit, das Tier gründlich zu
enthaaren. Außerdem fehlte den Soldaten das geeignete
Werkzeug dazu. Zusammen mit ein paar Steckrüben und
Kartoffeln wurde das Fleisch in einem großen Topf der
Feldküche gekocht.!
Einer der Männer gab dem hungrig umherstreunenden Jungen
einen Teller mit der heißen Steckrübensuppe., die scheußlich
schmeckte, denn Salz hatten die Soldaten offenbar nicht
gefunden.
Joachim ekelte sich vor den vielen Borsten, die in der Suppe
schwammen. Trotzdem aß er alles auf, denn er hatte
schrecklichen Hunger. Aber seit der Zeit mochte er keine
Steckrüben mehr essen. Diese Abneigung behielt er sein Leben
lang.!
In Schleswig-Holstein kurz vor der dänischen Grenze fanden
Joachim und seine Verwandten vorübergehend ein neues
Zuhause. Die Tante wandte sich ans Rote Kreuz, das einen
stark frequentierten Suchdienst eingerichtet hatte. Täglich
wurden die Namen der zu Suchenden im Rundfunk
bekanntgegeben. Man fand ihre
Namen mit einer Suchnummer außerdem an Litfasssäulen so wie
in Zeitungen. Das war erfolgreich, denn eines Tages im
Herbst erschien der Vater bei der Verwandtschaft. Joachim
war überglücklich und wollte sofort mitkommen, aber der
Vater vertröstete den Jungen mit den Worten: „Ich muss erst
die Mama und deine
Brüder finden. Aber Weihnachten sind wir bestimmt alle
wieder zusammen, das verspreche ich dir.“!
Der Vater hielt Wort und kam am 23. Dezember, um seinen Sohn
abzuholen. Am nächsten Tag machten sich die beiden auf den
Weg, kamen aber mit großer Verspätung in Hamburg an und
verpassten den Anschlusszug nach Bremen.!
Vater und Sohn haben inzwischen am großen Tisch in der
Bahnhofsmission Platz genommen. Die Frau bringt ihnen einen
Teller heiße Suppe, die besser schmeckt, als sie aussieht.
Dazu gibt es ein Stück Brot.
Joachim ist erleichtert, dass keine Steckrüben drin sind und
isst gierig alles auf. Nachdem sie noch einen Becher
Kräutertee getrunken haben, sind sie satt und müde
zugleich.!
In einem Nebenraum sind gerade zwei Feldbetten frei geworden
und sie werden gefragt, ob sie sich hinlegen wollen. Der
Raum ist eiskalt. Brennmaterial ist knapp und man heizt
deshalb nur den Aufenthaltsraum.
Leider gibt es keine Decken mehr und so ziehen Joachim und
sein Vater ihre Mäntel aus, um sich damit zuzudecken. Der
Vater macht in der Nacht kein Auge zu. Er verteidigt
vehement seinen Militärmantel und den Mantel seines Sohnes,
den ihm eine Dorfbewohnerin geschenkt hatte. Man will die
wärmenden Kleidungsstücke
klauen. Er schlägt mit dem Koppel um sich. Die Stiefel hat
er lieber gleich anbehalten. Auch Joachim hat sein schäbiges
Schuhwerk an den Füßen. Es ist sein einziges Paar Schuhe und
außerdem ist der Mantel zu kurz, um seine Füße zu bedecken.!
Am nächsten Morgen fahren Vater und Sohn mit dem ersten Zug
nach Bremen und von dort weiter in ihren neuen Heimatort, wo
sie von der restlichen Familie sehnsüchtig und besorgt
erwartet werden.!
Diesen Heiligabend hat Joachim nie vergessen.! !
Elke Abt!
28790 Schwanewede!
zum Index
Historische Weihnachtsgeschichten

Historische, wahre
Weihnachtsgeschichte
Diese historische, kurze
Weihnachtsgeschichte erzählt vom Jahr
1945, Heiligabend in der
Bahnhofmission Hamburg.
Kontakt |