Das Weihnachtsskelett
von
Thomas Weinmann
Der Junge durchstöberte im Physikzimmer
an der Schule seines Vaters, der ihn für die Vorbereitungen
mitgenommen hatte, aus Neugierde die Kästen. Da grinste ihn
unverhofft ein Skelett mit leeren Augen an. Der Junge,
erschrocken, fragte: «Papi, was ist das?»

«Das ist Sebastian, ein toter Mann!» gab der Vater zur Antwort.
Das Skelett war echt. Richtige Knochen eines Toten, fein
säuberlich wieder zusammengebaut.
Der Tod grinste aus dem Kasten. Und das war der Anfang eines
langen Leidenswegs für den traumatisierten Jungen.
Er konnte nicht mehr schlafen ohne Licht. Sein Bett stand nun
ganz in der Ecke des Zimmers. Die dicke Daunendecke ganz über
den Kopf gezogen, nur ein Loch zum Atmen gegen die Wand - er
hatte Mühe einzuschlafen. Immer wieder stellte er sich vor, dass
ein Skelett unter seinem Bett läge und mit seinen Knochenhänden
am Bettrand hochgreifen würde. Und den Kleiderkasten prüfte er
vor dem zu Bett gehen regelmässig, dass er ja geschlossen sei.
In seinen schlimmen Gedanken öffnete das Skelett den
unabgeschlossenen Kasten, oder kam auch durch das geöffnete
Fenster ins Zimmer herein.
In die Garage ging der Junge nicht mehr. Erst wieder
widerwillig, als der Vater das Schild, das mit einem
Totenschädel vor dem Kohlenmonoxid warnte, mit fetter Farbe
übermalte. Und der Putzschrank, da war eine Spritflasche mit
einem Totenschädel. Das wusste der Junge ganz genau. Er kannte
sie alle, die bösen Orte im Haus, an denen die Skelette
lauerten.
Bei Zähneputzen erblickte er im Spiegel die dunkle Treppe hinter
ihm - und glaubte ein Skelett heruntersteigen zu sehen.
Die Eltern schickten den Jungen zu einer Psychologin nach
Zürich. Die ältere, erfahrene Frau, nahm sich liebevoll dem
Jungen an. Es ging, so merkte dieser erleichtert, gar nicht um
Skelette und Totenschädel. Vorerst nicht. Erst ganz allmählich
tastete man sich an die Angst heran. Erste Schritte waren getan,
Schritte auf einem langen Weg zurück an den Ursprung.
Natürlich wusste der Junge nichts davon.
Irgendwann musste er mit zittrigen Fingern einen Totenkopf
zeichnen. Er konnte es nicht richtig, da er einen Schädel erst
gar nie richtig gewagt hatte zu betrachten. So gab ihm die
Psychologin einen stilisieren, winzigen Totenkopf zum
Abzeichnen. Später musste er das Bild eines Schädels in einem
Buch betrachten. Nur kurz. Und nur der obere Teil, ohne Kiefer
und von der Seite. So konnte dieser nicht grinsen und schaute an
dem Jungen vorbei.
Die Zeichnungen wurden besser, auch wenn
der Puls des Jungen jeweils noch deutlich über den Normalwerten
lag.
Und dann brachte die Frau einen echten
Schädel. Auch den musste der Junge ansehen. Nur kurz. Und er war
auf einem anderen Tisch und wurde bald wieder mit einem Tuch
zugedeckt.
Eines Tages malte der Junge ein Bild mit
Wasserfarbe. Es war ein ganzes Skelett, im Hintergrund Wolken,
Blitze. Das Bild sollte Furcht und Angst symbolisieren. Fast ein
bisschen stolz auf sein Werk zeigte er dieses der
Kinderpsychologin. Diese lachte und meinte: «Dein Skelett hat ja
viel zu wenig Rippen!» Es waren links und rechts je deren drei.
Und sie gab dem Jungen einen schweren Auftrag, da sie überzeugt
war, dass die Zeit nun reif dafür sei. Er sollte Rippen zählen
gehen. Musste zurück an den Anfang, ins Physikzimmer, den Kasten
wieder öffnen, welcher für ihn so etwas wie die Büchse der
Pandora geworden war.
Und dann stand er da, mit rasendem Puls, riss den Kasten auf,
verdeckte schützend mit der linken Hand die Sicht auf den
grinsenden Schädel und zählte hastig die Rippen auf der rechten
Seite des Knochenmannes. Zwölf! Er schlug den Schrank zu, wie
einen Sargdeckel, der nie wieder geöffnet werden sollte. Und
wusste: es sind 24 Rippen! Er wusste es nun bis in alle
Ewigkeit.
Die Psychologin sollte Recht behalten. Die
Geister verliessen den Jungen und kamen nie wieder zurück.
Obwohl ihn später als Oberstufenlehrer beim Betreten des dunklen
Schulzimmers sich jeweils kurz die Nackenhaare sträubten, als
ihn das Skelett aus der Ecke anstarrte, welches für seinen
Auftritt im Biologieunterricht bereitgestellt worden war.
Die Psychologin war eine weise, warmherzige Frau, die gut
zuhören konnte. Sie gab dem Jungen nie das Gefühl, dass sie ihn
in seiner Angst nicht ernst nehmen würde. Sie hatte ein feines
Gespür dafür, was an der Reihe sein sollte, was man dem kleinen
Patienten zumuten konnte. Sie nahm ihn an der Hand, führte ihn
durch das dunkle Tal, deckte ihm den Tisch im Angesicht seiner
Feinde und schenkte ihm voll ein. Er fasste Vertrauen, in sich
selbst und in die anderen, lernte, der Angst in die leeren Augen
zu blicken und deren Grinsen mit einem Lächeln zu erwidern.
Ist es nicht ähnlich mit unserem Gott? Der Heilige liess sich an
Weihnachten auf uns ein. Wurde Mensch, mit allen Sorgen und
Nöten, hatte Hunger und fror. Er begegnete seinen Mitmenschen
auf Augenhöhe, konnte ihnen den Arm um die Schulter legen. Sie
spürten seine Nähe, seine Wärme, seinen Atem, sein Lachen und
sein Weinen.
Und er ging mit ihnen durch dunkle Täler hindurch, durch
schlimme Ängste, Sorgen, Nöte und Krankheiten - und versprach:
«Siehe, ich bin bei euch, alle Tage, bis an der Welt Ende.»
So haben wir in Christus einen verlässlichen Beistand. Auch wenn
er uns nicht einfach alles erspart und uns alle Steine aus dem
Weg räumt – er hilft uns, unser Leben zu bestehen und am Schluss
den Sieg davonzutragen.
Denn der Tod ist besiegt, seine hohlen
Augen und sein schräges Grinsen machen uns in Christus keinen
Eindruck mehr.
Und ja, der Junge – das war ich.
Wir hoffen, dass dir diese Weihnachtsgeschichte gefallen hat.
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