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Das Großbruderehrenwort
von Sabine Ludwigs ![]() |
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eine
nachdenkliche Weihnachtsgeschichte
Als ich zur Welt kam, war mein großer Bruder Oliver schon
vierzehn Jahre alt - genauso alt, wie ich jetzt bin. Ich
fand immer, er wäre der beste große Bruder, den man sich
vorstellen kann.
Er brachte mir das Schwimmen bei, das Fahrradfahren und er
hat mir oft Geschichten erzählt wenn ich krank war oder
nicht einschlafen konnte.
An Weihnachten spielte er Mensch-ärgere-dich-nicht mit mir,
um mir das Warten auf die Bescherung zu verkürzen. Ich
erinnere mich noch gut an den Heiligabend vor fünf Jahren.
Meine Mutter hatte Gans, Rotkohl und Klöße gekocht. Zum
Nachtisch gab es Vanilleeis mit heißen Himbeeren und Sahne.
Das war Olivers Lieblingsweihnachtsgericht. Doch obwohl es
sehr gut schmeckte und der Tisch schön gedeckt war, mit
Kerzen und Tannengrün und allem, sprachen und lachten wir
nicht viel beim Essen.
Wir waren bedrückt und traurig, weil wir Oliver für eine
lange Zeit nicht sehen würden. Aber niemand wollte sich
etwas anmerken lassen. Oliver versuchte seiner Stimme einen
fröhlichen Klang zu geben, als er von seinem Abschiedsbesuch
bei den Großeltern erzählte und vorschlug, im nächsten Jahr
in den Skiurlaub zu fahren.
Nach der Bescherung - ich bekam die Carrerabahn, die ich mir
sehnlichst gewünscht hatte, und konnte mich trotzdem nicht
so richtig freuen - schlich ich in die Diele.
Da standen Olivers dunkelgrüner Rucksack und seine Tasche
und jede Menge anderes Zeug.
Oliver brauchte all die Sachen. Er war Soldat und musste in
seine Kaserne zurück, und von dort würde er sich auf eine
lange Reise machen. „In den mittleren Osten, Timo“, hatte er
mir erklärt. „In ein Land, das Afghanistan heißt.“
Da herrschte Krieg. Und Oliver gehörte zu den
Friedenstruppen, die dorthin fuhren, um den Menschen zu
helfen.
Ich bewunderte meinen Bruder und dachte: Wenn ich erwachsen
bin, will ich auch so sein. Dann gehe ich zu den
Friedenstruppen, bekomme eine tolle Uniform und – das Beste
von allem! - so ein Fernglas, wie Oliver es
besitzt. Denn das hatte es mir angetan.
Ich nahm es heimlich aus dem Rucksack, und genau in dem
Moment kam Oliver herein.
Er grinste, als er mich mit dem Fernglas ertappte, und nahm
mich mit in sein Zimmer.
Da zog er die Vorhänge vor dem Fenster zurück und sagte:
„Sieh in den Himmel.“
Das tat ich; ich schaute durch das Fernglas nach oben. Der
Himmel war mit schimmernden Sternen übersät. Es waren
unzählige. Und sie waren unglaublich nah! Manche strahlten
bläulich, andere eher gelb und wieder andere weiß.
Aber der größte und schönste Stern funkelte in goldenem
Licht und ich musste tief einatmen, als ich ihn so dicht vor
mir sah.
Oliver legte eine Hand auf meine Schulter. „Du hast wohl den
Weihnachtsstern entdeckt, was?“ Er lachte leise.
Ich ließ den Stern nicht aus den Augen und folgte seinen
Strahlen mit dem Fernglas. Und da entdeckte ich ihn! Wie von
einem Scheinwerfer angeleuchtet war da ein großer, weißer
Hund. Er tollte auf einer Wiese herum, wie Hunde das eben
manchmal tun.
„Guck mal, Oliver, da ist ein Hund und er ist ganz
alleine!“, schrie ich.
Oliver schaute durch das Fernglas. „Ah ja“, sagte er und
reichte es mir zurück. „Weißt du, wer das ist?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Das ist Malaika. Sie ist ein Hirtenhund und gehörte einst
den Hirten, die am Stall von Bethlehem waren.“
„Ach Quatsch“, rief ich und stellte das Fernglas schärfer,
um Malaika besser sehen zu können. „So was gibt es ja gar
nicht.“
Aber da saß Malaika vor mir! Ihr Fell leuchtete im Mondlicht
und ihre Augen glänzten dunkel. Sie war schöner als
irgendein Hund, den ich je gesehen hatte!
„Doch. Ganz bestimmt“, beharrte Oliver. „Allerdings kann man
Malaika nur in der Heiligen Nacht sehen. Und dann auch nur,
wenn das Licht des Weihnachtssterns auf sie fällt. Außerdem
muss man sehr genau hinschauen ... mit einem Fernglas zum
Beispiel.“
Malaika wedelte mit dem Schwanz und spähte in meine
Richtung, als wüsste sie, dass ich sie beobachtete.
„Glaub ich nicht! Im Stall von Bethlehem waren doch nur ein
Esel, ein Ochse und die Schafe. Von einem Hund steht
nirgendwo etwas“, wandte ich ein.
„Sie haben vergessen, es aufzuschreiben“, behauptete mein
Bruder. „Aber wo Schafe sind, da sind auch Schäfer. Und
Schäfer haben Hunde. Oder nicht?“
„Ja“, musste ich zugeben. Ich konnte mich nicht sattsehen an
Malaika. Und als Oliver zu meinen Eltern zurückging, stand
ich noch lange mit dem Fernglas da und malte mir aus, was
die weiße Hündin am Stall von Bethlehem erlebt haben mochte.
Wie sie leise bellte, wachsam umherschaute und die wolligen
Schafe und ihre blökenden Lämmer in der Nacht behütete.
Alles unter dem Weihnachtsstern!
Hatte sie den Chor der Engel gehört? Die Ankunft der
Heiligen Drei Könige gesehen? Maria und Josef? Womöglich
sogar ... das Jesuskind?
Ich stand ganz still. Ganz stumm.
Wie verzaubert war ich.
Ich musste wohl in Olivers Zimmer eingeschlafen sein, denn
als ich am Morgen erwachte, lag ich in seinem Bett. Die
Vorhänge waren zugezogen, das Fernglas war weg und Oliver
auch. Aber er hatte mir einen Brief dagelassen. In großen
Druckbuchstaben, damit ich ihn leichter lesen konnte.
LIEBER KLEINER BRUDER!
DAS FERNGLAS MUSSTE ICH LEIDER MITNEHMEN. ABER WENN ICH
ZURÜCKKOMME, SOLLST DU ES HABEN.
großeRBRUDEREHRENWORT!
DEIN OLIVER
Ich freute mich sehr, weil Oliver noch nie ein
Großerbruderehrenwort gebrochen hatte.
Dieses allerdings hat er nicht gehalten. Er konnte es nicht.
Sonst hätte er es getan, da bin ich mir ganz sicher! Aber
Oliver hat in Afghanistan bei einem Bombenattentat sein
Leben verloren.
Ich denke fast jeden Tag an ihn. Den besten großen Bruder,
den man sich vorstellen kann. Es macht mich traurig, aber
auch wütend über alle Kriege. Und ich frage mich, was er
wohl als Letztes durch sein Fernglas gesehen hat.
Er fehlt mir entsetzlich. Doch am schlimmsten ist es zur
Weihnachtszeit. Dann stelle ich mich ans Fenster, schaue in
den Himmel und suche nach dem Weihnachtsstern. Wenn ich ihn
finde und sein Glitzern sehe, höre ich immer Olivers Stimme.
Leise, so leise, dass nur ich es hören kann, erzählt er mir
sein Weihnachtsmärchen von Malaika, der weißen Hütehündin.
In diesen Momenten ist es, als wäre er bei mir.
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