Das alte Bahnwärterhaus

oder

Die spontane Liebesgeschichte

Lilo Küp

Kurze Weihnachtsgeschichte ideal für Senioren (wurde für eine Seniorenrunde in einem Seniorenheim verfasst), aber auch als nachdenkliche Geschichte für die ganze Familie geeignet

Das alte Bahnwärterhäuschen steht noch immer. Erinnert an die Zeit, als hier noch Züge von fern heranrollten und vorbeibrausten. Nun ist es still geworden. Den alten Haberer haben sie vor Jahren schon zu Grabe getragen. Das war kein Leben mehr für ihn, ohne Arbeit, ohne die Züge, die vorbeifuhren und Träume weckten von der Welt, die hinter dem Dorf lag, in dem er von Kind an zu Hause war. Lokomotivführer wollte er werden. Aber seine Augen waren zu schlecht. Nach einer Krankheit war das zurückgeblieben, dieses Augenleiden, das kein Arzt heilen konnte. So war er Bahnwärter geworden. Er liebte das Geräusch der fahrenden Züge, in Gedanken fuhr er mit ihnen in die weite Welt. Wenn man Phantasie hatte, konnte man damit leben. 

bahnwaerterhaus

Aber als vor Jahren der kleine Dorf-Bahnhof, der kaum 10 Fußminuten entfernt lag, stillgelegt wurde, da hatte man nicht nur die Gleise ausrangiert auch ihn, den Bahnwärter mit. Das war kein Leben mehr. Für ihn nicht.

Das Bahnwärterhäuschen steht noch verlassen auf seinem Fleck. Die  Fassade zeigt jedes Jahr mehr Spuren der Vergänglichkeit, der Mörtel bröckelt ab, die Fensterläden hängen schief und klappern, wenn ein Sturm übers Land geht. Aber sonst ist es still. Keine Züge, keine Reisenden. Vielleicht einmal das Krächzen der Raben, die in den Bäumen ihre geräuschvollen Versammlungen abhalten. Oder eine Amsel, die ihr Liedchen trällert. Blühende Sträucher wuchern um das kleine Haus, das langsam und stetig verfällt.

Manchmal im Sommer spielen Kinder auf der Wiese hinterm Haus. Dann hört man ihr Lachen und Johlen. Die Frau des Bahnwärters, die noch in dem Haus wohnt – wo hätte sie sonst hin sollen mit der kleinen Rente? – sie freut sich über jedes Lebenszeichen. Man sieht sie oft am Fenster sitzen. Das Ausgehen ist längst beschwerlich geworden.  Aber das Fenster ist eine wichtige Verbindung zur Außenwelt. Dann und wann hasten  Leute vorbei. Sie haben es immer eilig. Die Erwachsenen mit den verschlossenen Gesichtern.

„Sind ihre Gesichter nicht wie Kerker ohne Fenster?“ denkt die alte Frau. „Kein Gruß, kein Lächeln öffnet ihre Gesichter.“

Ein Lächeln ist wie ein Fenster, das Einblick gewährt, für einen Moment die Fremdheit mit Vertrautheit tauscht. Den Betrachter aus der Isolation befreit, für einen Augenblick. Manchmal wirken solche Augenblicke lange nach.

Am ‚Heilig Abend’ kam die Frau vom Bäcker mit dem kleinen Jungen und  brachte der Bahnwärterwitwe ein Körbchen mit Kuchen und Wein.  Als diese verlegen zögerte, es anzunehmen, lachte sie der Kleine so herzlich an,   sie streichelte seine Wangen, zutraulich griff er nach ihrer Hand, wollte sie nicht mehr loslassen und drückte sein heißes Gesichtchen hinein.

Diese spontane Liebeserklärung des kleinen Jungen war für die Beschenkte wie ein Sonnenstrahl, der etwas Licht in ihren grauen Alltag brachte.

Ein Quäntchen Vertrautheit in der Isolation, die so oft das Alter begleitet.

Plötzlich tauchten Erinnerungen auf an die eigene Kindheit, an die Geschenke und die Liebe, die sie alljährlich an Weihnachten erfahren durfte. Und sie vergaß für eine Weile, dass sie einsam war. Sie fühlte sich aufgehoben in dem unbeschwerten Lachen eines Kindes.

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