Linktipp der Woche: Kinder mit personalisierte Kinderbücher in der Entwicklung fördern
Weihnachten, das Fest der Besinnung
von Klaus Brehme
Weihnachtsgeschichte mit tieferen Sinn
…tja, das war Klasse, wie er gestern noch diesen Geschäftspartner über’s Ohr gehauen hatte. In nur fünf Minuten hatte er seinen Gewinn um 5% gesteigert, ohne mit der Wimper zu zucken. Sicher hatte der Andere jetzt einen Schaden, aber schließlich ist das sein Problem und nicht meins, dachte er bei sich. Jeder ist sich selbst der Nächste und schließlich war ja Weihnachten, da konnte man jeden Cent gut gebrauchen.
Er fuhr gerade auf die Autobahn, in Richtung City.
Aber jetzt waren sie da, diese süßen, kleinen Krümelmonster von sieben und neun Jahren, die soeben beim Naschen an den noch nicht freigegebenen Weihnachtstellern ertappt wurden. Spuren der zerbröselten Kekse führten direkt ins Kinderzimmer, Knuspern und Schmatzen waren ebenfalls nicht zu überhören, genauso wenig, wie Gerolds ständige Nörgelei über eine Menschenmenge von geschätzt 200 Demonstranten, die sich ein klein wenig von ihrem Wohnhaus entfernt am Rande der Fußgängerzone vor den großen festlich geschmückten Warenhäusern versammelt hatten, um mit Spruchbändern, Flugblättern und Gitarrenklängen auf den Sinn von Weihnachten als Fest des Friedens und der Versöhnung aufmerksam zu machen. Einige Polizisten standen um sie herum, aber alles blieb soweit friedlich. Für ihre Ideale harrten sie bereits stundenlang im Regen aus. Regenwetter, wie schon in den letzten Jahren der Fall, war auch dieses Jahr zum heiligen Fest angesagt, von weißer Weihnacht keine Spur. Diese lag noch etwas länger zurück. Cornelia beäugte ebenfalls etwas kritisch die Kundgebung in der Einkaufsstraße neben hastig herumlaufenden Menschen, die noch auf den letzten Drücker Geschenke besorgten. Die Szene stimmte sie nachdenklich. Für einige Augenblicke kehrte Conny tief in sich, bevor sie sich wieder dem Verzieren des Tannenbaumes widmete. Eine Kerze hier, eine rote Kugel da, auf einmal wurde ihr schwindelig. Sie setzte sich erst mal an den Wohnzimmertisch mit der ‚Hörzu‘ in ihrer Hand. ‚Wir wünschen allen Lesern frohe Festtage und ein erfolgreiches Jahr 1975!‘ stand auf der Titelseite. Beim Lesen kam Conny nur wenige Zeilen weit. Sie fühlte sich zu matt. „Liebe Leute, ich muss mich mal kurz im Schlafzimmer hinlegen!“ verabschiedete sie sich vom Rest der Familie. ‚Ach, einfach nur mal kurz entspannen,‘ war ihr erster Gedanke beim Langmachen auf der Matratze. ‚Danach darf die Arbeit für diesen besonderen Tag meinetwegen weitergehen.‘ Ein tiefer Atemzug, ein weiterer, dann fielen ihr die Augen zu. Die Geräusche um sie herum verstummten, Stille nahm ihren Platz ein. Es folgte ein schier endloses Dahinschweben in einem leeren, dunklen Nichts, bar jeglichen Zeitgefühls im ewigen Raum der Schwerelosigkeit. Plötzlich gab die sie umwobene Dunkelheit einen Blick wie durch ein Kaleidoskop frei. Die Konturen wurden klarer, die Farben kräftiger. Schließlich löste sich die Finsternis vollständig auf. Conny stand auf einer blühenden Sommerwiese unter einem blauen Firmament, umgeben von Mischwäldern, grünen Hügeln und Seen, in denen sich die Farbe des Himmels widerspiegelte. Dieser Ort, diese Bilder – Erinnerungen aus vergangenen Zeiten kehrten zurück. Sie war wieder in Ostpreußen, der Wiege ihrer Kindheit. Gefühlt musste es schon eine Ewigkeit her sein, dennoch hatte sie nichts davon vergessen. Dieses einzigartige Fleckchen Erde, ein Naturparadies, idyllisch breitete es sich in alle Himmelsrichtungen um sie herum aus. Cornelia rannte über die mit bunten Blumen aller Art verzierte Wiese, begleitet von einer warmen Brise, welche durch das Haar eines Mädchens von jugendlicher Frische wehte. Manchmal hüpfte sie dabei vergnügt herum und wand ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zu, wie in alten Kindertagen. Direkt vor ihren Augen tauchte der Haflinger Hengst Caballo aus dem Gestüt ihrer Großeltern auf. Sie lief ihm zur Begrüßung entgegen, wollte ihn streicheln, doch schien mit einem Mal die Harmonie gestört zu sein. Das Tier wirkte irgendwie aufgebracht, es blieb auch nicht stehen wie sonst, um sich streicheln zu lassen. Mit einem verzweifelten Wiehern trampelte es wild und ungezügelt an dem Mädchen vorbei, schlug einen Haken nach links und galoppierte wie vom Teufel geritten über die Hügelkuppe davon. Was war geschehen? Verunsichert blieb sie stehen, warf zuerst einen Blick über die hügelige Landschaft, anschließend in den Himmel. Von der Seite brachen graue Wolken herein und verdrängten rasch das sommerliche Tiefblau. Ein Sturm zog auf im Garten Eden, Blätter flogen massenhaft umher, Äste krachten, Regen setzte ein. Cornelia rannte so schnell sie konnte, jetzt aber nicht mehr vor Freude, sondern vor lauter Angst. Die Lage wurde derweil immer unbarmherziger. Jetzt wurde es auch noch richtig kalt, so kalt, dass die Regentropfen augenblicklich in der Luft kristallisierten und als Schneeflocken herunterfielen. Ein warmer Ofen oder Kamin musste unbedingt her. Plötzlich donnerte es irgendwo hinter ihr in der Ferne, ein Gewitter offensichtlich. Das Donnern wurde lauter, der Lärmpegel steigerte sich zu einem regelrechten Dröhnen. Nun fing auch noch die Erde an zu beben. Schreck lass nach, das war kein Gewitter, es waren Granateinschläge, die immer näher kamen! Das total verängstigte Mädchen wollte nur noch nach Hause zu ihrer Familie, wo es mit Sicherheit schon erwartet wurde. Die Schritte wurden schneller und schneller, bis Conny über der mittlerweile hoch aufgehäuften Schneedecke keinen Bodenkontakt mehr spürte. Sie flog förmlich durch die winterliche Landschaft, bis hinter einem kleinen Tannenhain das so sehr herbeigesehnte Haus der Familie auftauchte. Dort hatte man sie lieb, dort gab es Wärme und Geborgenheit, Schutz vor dem drohenden Unheil, dass sie so gnadenlos verfolgte.
Die ganze Familie saß bestimmt schon vor dem muckelig warmen Kaminfeuer zusammen, dessen brennende Holzscheite immer so schön knisterten, und feierte fröhlich Weihnachten mit Großvaters eigens hergestelltem Honiglikör und Großmutters lecker gebackenen Keksen. ‚O nein!‘ dachte sie nur, als sie die Tür öffnete. Das Zimmer war komplett leer, keine Familie, weder Kamin noch Weihnachtsbaum, gar nichts außer kahle Wände, die Bedrohlichkeit ausstrahlten. Wo waren sie alle geblieben? Mit einem Mal wurde es hektisch. Vater, Mutter, Geschwister, Großeltern, alle tauchten schlagartig auf und wirbelten ungeordnet umher. „Cornelia, beeil dich, du musst fliehen!“ flehte ihre Mutter sie an. „Aber Mama,“ fing Conny an zu weinen, „wieso muss ich fliehen?! Ich bin doch hier zu Hause und außerdem ist Weihnachten!“ „Weihnachten ist längst vorbei, du musst fliehen!“ wiederholte die Mutter eindringlich mit panischer Stimme. Alle brausten aus dem Haus, Conny hinterher.
Draußen angekommen sah man viele Menschen auf der Straße, die alle nur noch, so schnell es ging, laut schreiend in eine Richtung liefen. Die ganze Stadt schien auf der Flucht zu sein. Aber warum? Wieso spielten auf einmal alle verrückt? Cornelia verstand die Welt nicht mehr. Sie blieb zunächst wie angewurzelt stehen und drehte sich um. Schlagartig fing das Blut in ihren Adern zu gefrieren an. Eine wilde Horde Soldaten kam mit hassverzerrten Gesichtern zähnefletschend auf sie zugerannt. Der graue Himmel über ihnen wechselte seine Farbe auf blutrot! Jetzt nahm auch sie die Beine in die Hand und spurtete davon, am Rathaus vorbei, wo die an der Hauswand in Röhrenhalterungen gesteckten Fahnen just in Flammen aufgingen, der fliehenden Masse hinterher. Überall aus den Seitenstraßen kamen Panzer auf sie zugerollt, einer befand sich direkt hinter ihr. Und wieder dieser tiefe Schnee, der ihr mittlerweile bis zum Bachnabel ging. Um Himmels willen, sie war zu langsam! „Mutter, Mutter, hilf mir!“ schrie sie todesängstlich in Richtung Menschenmenge, die schon viel weiter vorne am Türmen war. Das Rasseln von Metallketten drang immer lauter in ihr Trommelfell. Jeden Augenblick würde das metallische Monster sie überrollen und damit ihrem jungen Leben ein Ende bereiten. Die Schneemassen waren absolut nicht mehr zu bewältigen. Cornelia versank sprichwörtlich in ihnen, bis sie auf einmal in eine Spalte fiel und liegen blieb. Nun war der Jäger genau über ihr und hielt an. Das Herz schien vor lauter Angst in der Brust zu zerspringen, nur der dröhnende Motor über ihr war noch stärker zu hören. Gab es jetzt noch eine Möglichkeit zu entkommen? Aber wohin?!
Kurze Zeit später begann der Stahlkoloss, sich mit kreisenden Bewegungen immer tiefer in den Schnee hineinzubohren mit dem Ziel, sein Opfer im wahrsten Sinne des Wortes zu zerquetschen. Connys verzweifeltes Gekreische wuchs zu einem Lärmpegel an, der selbst das Geräusch des Kettenfahrzeugs noch übertönte, das ihrem Rückgrat immer näher kam. Nur noch wenige Zentimeter trennten sie von dem todbringenden Stahlmantel, als unerwartet ein junger Soldat, kaum älter als sie selbst, mit einer Panzerfaust dem Feind entgegentrat. „Hilf mir! Bitte!“ schrie Conny den Mann an, der mit grimmiger Miene zum Schuss ansetzte. Tränen strömten in ihre Augen, die Umrisse verschwammen. Weshalb zögerte dieser Mensch eigentlich noch? „Schieß endlich! Schieß!!“ Feuer! Ohrenbetäubend laut krachte das Projektil der Panzerfaust mit zerberstender Gewalt in den Metallriesen hinein. Ein greller Pfeifton belegte augenblicklich das Trommelfell, ein Flammeninferno breitete sich langsam vor ihren durch Tränen angeschwollenen Augen aus. Ein Mann kam schreiend wie am Spieß aus dem Panzer geklettert und warf sich brennend in den Schnee. Das Feuer kam jetzt von allen Seiten auf sie zu. Cornelia brüllte ihre ganze Verzweiflung hinaus! „He Conny!“ Jemand schüttelte von der Seite an ihrem Brustkorb, erst leicht, dann zunehmend kräftiger. Noch immer lag sie im tiefen Schnee unter dem tonnenschweren Kampffahrzeug, umgeben von einem wütenden Flammenmeer. Wo blieb der junge Soldat, ihr Lebensretter? „Conny!“ Plötzlich schob sich eine helfende Hand durch die Feuerwand und zerrte heftig an ihr. „Liebling, wach auf!“ Die Hand zog ihren Körper mitten durch die Flammen. Seltsamerweise spürte sie keine Hitze, aber es wurde blendend hell, sie ertrank förmlich im Licht.
Einen Augenblick später verschwand die Helligkeit abrupt und Dunkelheit kehrte zurück… Cornelia schreckte mit einem lauten Seufzer hoch, so dass sie aufrecht im Bett saß und sich völlig verwirrt umsah. „Wo bin ich!?“ Gerold beugte sich vornüber, bis er beide Schultern von ihr zu fassen bekam. „Schatz, du bist zu Hause!“ Er schob sie etwas näher zu sich und streichelte sanft über ihre Wange. „Es ist alles in Ordnung, du hast nur schlecht geträumt!“ „Mami, Mami!“ riefen Anton und Ellen, während sie ins Schlafzimmer gestürmt kamen.
Ihre Tochter warf sich sogleich zu Mutter aufs Bett und kuschelte sich fest an sie heran. „Mami, was ist los, hast du was Böses geträumt?“ „Ist schon gut, mein Schatz,“ wollte Cornelia ihre kleine Tochter beruhigen, wobei sie liebevoll über ihr langes blondes Haar strich. „Mama, du musst dir jetzt mal den Weihnachtsbaum anschauen,“ meinte Anton. „Ö…Weihnachtsbaum?“ fragte sie noch immer reichlich desorientiert. „Ja Mami,“ meldete sich Ellen zu Wort. „Wir haben ihn jetzt ganz toll geschmückt.“ Alle bestaunten das inzwischen für die anstehenden Festtage dekorierte Wohnzimmer. „Können wir nicht schon mal die Kerzen anzünden?“ bettelte Ellen, die ihre Bescherung anscheinend kaum noch erwarten konnte. ‚Eigentlich gar keine schlechte Idee bei der eintretenden Dämmerung,‘ dachte Conny so für sich und warf dabei einen Blick aus dem Fenster in Richtung Fußgängerzone. Erstaunlicherweise harrten dort immer noch einige hartnäckige Manifestanten vor ihren Werbeständen aus, obgleich der anhaltende Regen kein bisschen abgeklungen war. Plötzlich kam ihr ein zündender Gedanke. Sie ging in den Kellerraum, wo eine Menge Küchenutensilien aus alten Familienbeständen gesammelt wurden. Gerolds Eltern brachten früher von Zeit zu Zeit an Besuchstagen immer mal Töpfe, dann wieder Pfannen, Geschirr, Besteck und so weiter mit, die sie von überall her aus diversen Haushalten aufgetrieben hatten, in denen sie nicht mehr benötigt wurden. ‚Für schlechte Zeiten, wenn’s mal wieder Krieg gibt,‘ so die Begründung der alten Herrschaften. Cornelia schnappte sich als erstes den riesengroßen Suppentopf, der etliche Liter an Inhalt fasste. Teller, Löffel, in Hülle und Fülle vorhanden, legte sie mit hinein. Schwer beladen schleppte sie alles nach oben in die Küche, um gleich nochmal aus dem Keller die Konserven mit Erbsensuppe hervorzuholen.
Verwundert sah ihre Familie sie an, als der Inhalt der Büchsen in den frisch gereinigten Topf platschten, bis er randvoll war, viel zu viel für eine vierköpfige Familie. „Conny, wollten wir nicht am Heiligen Abend die Ente braten, die ich kürzlich vom Wochenmarkt mitgebracht habe?“ „Mama! Ente essen, nicht Suppe!“ jammerte die kleine Ellen ganz enttäuscht. „Kinder, die Suppe ist auch nicht für euch! Natürlich brate ich nachher die Weihnachtsente für uns alle. Jetzt habe ich erst Mal anderes zu tun.“ Seinem Stirnrunzeln zufolge erwartete Gerold eine genauere Darlegung ihres Vorhabens. „Schatz, kannst du mir mal bitte erklären, was du da gerade machst? Willst du eine ganze Kompanie mit der Erbsensuppe verpflegen?“ Ihr ach so typisch drolliges Lächeln kam zurück, als sie zu ihm herübersah. „Genau das habe ich nicht vor! Aber schau doch mal aus dem Fenster, vielleicht fällt es dir auf?“ Gerold ging zum Küchenfenster. „Was?!“ fragte er mit einer Stimme, aus der man schon Entsetzen herauslesen konnte. „Du willst diese langhaarigen Hippies da hinten mit der Suppe versorgen? Was machen die überhaupt noch um diese Zeit vor den Geschäftsreihen? Die sollten auch mal langsam alle nach Hause zu ihren Familien gehen, falls man sie dort überhaupt noch empfängt!“ „Gerold, diese ‚langhaarigen Hippies‘, wie du sie zu nennen pflegst, tun das nicht aus reinem Selbstzweck, vielmehr sollte ihre Überzeugung uns allen ein Vorbild sein!“ Cornelias Miene wurde ernster ohne ihren Mann damit überzeugen zu können. „Frieden schaffen ohne Waffen! Blödes Gewäsch! Haben die überhaupt eine Vorstellung vom wirklichen Leben?“ „Gerold, hast du vielleicht eine Vorstellung davon, wie es dir und mir ergehen würde, wenn unser Anton später mal an irgendeiner Front verheizt werden sollte!“ „Ich denke, du übertreibst ein wenig…“ Sie wurde energischer. „Ich habe das Gefühl eines Krieges damals an Leib und Seele gespürt und mit Verlaub gesagt, ich habe eine Vorstellung vom wirklichen Leben, weil ich es um ein Haar verloren hätte!“ Gerold stutzte. „Schatz, so dramatisch hast du nie davon gesprochen.“ „Alles zu seiner Zeit! So, die Suppe ist heiß genug. Sei bitte so lieb und hol mal den Bollerwagen aus dem Keller, damit ich den nicht auch noch schleppen muss,“ meinte sie abschließend. Ihr Mann zögerte mit bedröppeltem Blick. „Gerold, was ist los, brauchst du vielleicht einen Einsatzbefehl?“ fragte sie zynisch. Die Dämmerung war fast vollendet, als Conny samt Bollerwagen, beladen mit Suppe, Tellern und Löffeln im Regen, der sich inzwischen in einen leichten Nieselregen verwandelt hatte, Richtung Innenstadt aufbrach.
Auf halber Strecke warfen ihr schon einige der noch verbliebenen Demonstranten neugierige Blicke entgegen, ein kunterbunter Kleidermix von etwa 20 Personen, die im Lichterschein der Geschäftsreihen zusammenstanden und eigentlich nur noch untereinander diskutierten, da sich offensichtlich niemand anderes mehr für ihr Anliegen interessierte. Auch die Polizei war inzwischen wieder abgerückt. „Mensch, das ist ja vielleicht ein Service,“ bemerkte der Erste unter ihnen, der verstand, was auf sie zukam. Vermutlich hatte es keiner der Protestler erwartet. Dankeslob kam von allen Seiten, während Cornelia einen Teller nach dem anderen vollschöpfte, bis der Topf restlos leer war. Zufriedene Gesichter, Menschen, denen es unverkennbar schmeckte, warfen ihr freundliche Blicke zu. Ein Mann mit langem, wehenden Haar und spitzem Bart reichte der Gönnerin Informationsmaterial zu der weihnachtlichen Veranstaltung und verwickelte sie in ein Gespräch. Binnen weniger Minuten war alles verzehrt, Teller und Löffel wurden wieder ordnungsgemäß auf den Wagen zurückgestellt. Conny war gerade im Begriff den Heimweg anzutreten, als sie auf ein älteres Ehepaar aufmerksam wurde, welches sich geradeswegs auf die Menge zubewegte, Gesichter, die alles andere an Stelle von Freundlichkeit ausstrahlten. „Ist doch unglaublich, was dieses Volk sich herausnimmt!“ sprach der Mann zunächst noch in Richtung Gattin, derweil er beim Näherkommen seinen Spazierstock bedrohlich durch die Luft schwang. „Ihr Kommunisten, einsperren sollte man Euch alle!“ Der ältere Herr blieb trotz seiner Verunglimpfungen von den Demonstranten weitestgehend unbeachtet. „Habt ihr nichts besseres zu tun?! Wenn ihr euch wirklich in der Politik nützlich machen wollt, dann sorgt gefälligst dafür, das die Russen uns die deutschen Ostgebiete zurückgeben!“ „Jawohl, tut lieber mal was für unser Land, statt nur auf der Straße herumzulungern,“ stimmte seine Frau mit ein. „Meine Heimat ist Ostpreußen, dorthin möchte ich gerne noch zu Lebzeiten zurückkehren können,“ fuhr der Gatte weiter fort. Den Rücken zur Straße gerichtet, hielt Conny den Bollerwagen mit beiden Händen fest und schaute den alten Herrn eindringlich an. „Guter Mann, ich glaube, der Traum ist ausgeträumt!“ Sie drehte sich um und verschwand im Schein der Straßenlaternen.
Der Entenbraten mit Kartoffeln und Rotkohl galt als kulinarischer Höhepunkt des Heiligabends. Diese glücklichen Kinderaugen, Gesichter, die beim Verspeisen vor Freude mit fettigen Pausbäckchen glänzten und Zähne, die alles fein säuberlich bis auf die Knochen abnagten, sorgten doch noch für eine weihnachtliche Stimmung innerhalb der Familie. Danach war es endlich soweit mit der Bescherung. Die Eltern saßen Arm in Arm auf dem Sofa und genossen schweigend den Anblick spielender Kinder im Kerzenschein, dessen Licht neben den bunten Christbaumkugeln nur einen winzigen Teil des Wohnzimmers erhellte, derweil die Stunden verrannen. Nachdem die erste Begeisterung über die neuen Geschenke abgeflaut war, flitzten die Kleinen zu ihren Eltern auf den Schoß. „Ich will zu Mami!“ rief Ellen als erstes und ließ sich von ihrer Mutter hochnehmen, während Anton beim Vater Platz fand. „Sag mal, Mama…“ fing das Mädel leise schüchtern an zu fragen. „Entschuldige, Schatz, du musst etwas lauter reden. Du weißt ja, Mama ist auf dem linken Ohr etwas schwerhörig, unterbrach sie die Kleine und neigte ihren Kopf leicht nach unten. „Sag mal, Mama, wer hat denn die viele Suppe gegessen?“ Conny drückte Ellen fest an sich und strich ihr mit dem Finger leicht über die niedliche Stupsnase. „Die haben Menschen bekommen, die hungrig waren,“ sprach sie mit sanfter Stimme. „Versteh ich nicht. Wieso haben diese Menschen denn nichts zu essen?“ fragte Ellen ganz verwundert. Cornelia fand es an der Zeit, ihrer Familie einige Erlebnisse aus vergangenen Zeiten zu erzählen. Sie fing mit dem Albtraum des vergangenen Nachmittags an, trug alles so vor, wie man es Kindern begreiflich machen konnte, von den Bildern, die ihr dort begegnet waren, von der Flucht, wie sie tatsächlich stattfand, und zu allerletzt beschrieb sie ihre spektakuläre Rettung durch einen jungen Soldaten, der sich wagemutig einem russischen Panzer entgegengestellt hatte. Geduldig hörte die ganze Familie zu, ergriffen von alldem, was Conny erzählte. „Mami, kochst du nächstes Jahr Weihnachten wieder Suppe für die hungrigen Menschen?“ fragte Ellen, als Mutters Erzählungen ein Ende gefunden hatten. „Gewiss, mein Liebes und du darfst mir gerne dabei helfen, wenn du möchtest.“ „Au ja, dann gehen wir zusammen dahin!“ rief die Kleine begeistert. „Jetzt ist es allerdings Zeit zum Schlafen gehen, Kinder. Kommt, Zähne putzen und dann husch husch ins Körbchen!“ Cornelia und Gerold blieben noch lange Zeit im Wohnzimmer sitzen, umgeben von einem weihnachtlichen Ambiente. Er legte zärtlich seinen Arm um sie, als sie ihren Kopf an seiner Schulter lehnte. Die müden Augen wollten nicht mehr offen bleiben, hatten zu viel erlebt an diesem Tag. „Ich habe bis heute nicht gewusst, dass es so schrecklich für dich war, Liebling!“ fing Gerold auf einmal an, der schon länger nichts mehr gesagt hatte. „Ich habe bis heute auch niemals davon gesprochen. Es war die ganze Zeit tief in meinem Innern versteckt und fand keinen Zugang zu mir. Ich habe es einfach nicht an mich herangelassen.“ Die Kerzen waren längst ausgebrannt, als sie immer noch Arm in Arm auf dem Sofa saßen. Es war so angenehm ruhig in dem dunklen Raum, nur noch das Licht der Sterne fiel aus dem inzwischen aufgeklarten Nachthimmel durch das große Wohnzimmerfenster und zeichnete eine schwache Silhouette in Form eines Weihnachtsbaumes in die ansonsten finstere Umgebung hinein. Stille Nacht, heilige Nacht!
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