Ich habe das Christkind gesehen

Sabine Ludwigs

Kurzgeschichte über das Christkind

liebliche Geschichte auch für Kleinkinder ab 4 Jahren

Wir sind drei. Meine ältere Schwester Julia, mein jüngerer Bruder Marlon und ich. Mein Name ist Sofie.

Die neugierige Sofie nennen sie mich zuhause, und es stimmt, ich bin furchtbar neugierig! Wenn Julia mit ihren Freundinnen kichert, frage ich sofort, warum sie lachen. Wenn Marlon mit seinen Freunden flüstert, muss ich unbedingt wissen, worüber sie reden. Und wenn Mama sagt, ich soll in mein Zimmer gehen, weil sie etwas mit Papa zu besprechen hat, das nicht für Kinderohren bestimmt ist, könnte ich vor Neugierde platzen – denn ich will alles wissen, einfach alles!

Warum heißen Milchzähne Milchzähne, obwohl sie nicht aus Milch sind? Woher kommt der Regenbogen? Warum kann man durch Glas sehen? Was macht der Wind, wenn er nicht weht? Aber am aller-, allermeisten möchte ich eines wissen: Wie sieht das Christkind aus?

Mädchen als kleiner Engel

Ich habe fast jeden gefragt, den ich kenne: Meine Eltern, die Omas und Opas, Tante Stephanie und Onkel Uwe, meine Freunde, unsere Nachbarn, den Eiermann und die Frau an der Kasse im Supermarkt.

Sie wussten es nicht.

Ich habe den Zahnarzt gefragt, gerade, als er mir in den Mund schaute, und das hörte sich so an: „Uie schiet dasch Krischkinn ausch?“, und am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien habe ich meiner Lehrerin dieselbe Frage gestellt.

Allerdings wussten auch sie es nicht. Genau wie alle anderen, die ich noch gefragt habe und die mir gerade nicht einfallen. Keiner von ihnen hat das Christkind je zu Gesicht bekommen. Mein Cousin Max hat mich sogar ausgelacht und behauptet, es gäbe gar kein Christkind.

„Das ist der dümmste Quatsch, den jemals ein Mensch erzählt hat!“, antwortete ich Max daraufhin, „denn wenn es kein Christkind gibt, warum feiern dann fast alle Menschen auf der Welt an Weihnachten seinen Geburtstag? Sogar die Großen? Kannst du mir das verraten, he?“

Konnte er natürlich nicht, war ja klar. Und heute, an Heiligabend, werde ich ihm beweisen, dass es das Christkind gibt. Ich habe nämlich einen Plan: Ich werde mir heimlich das Christkind anschauen und dann werden Max die Augen aus dem Kopf fallen, wenn ich ihm davon erzähle und ihm ganz genau beschreiben kann, wie es aussieht. Ha!

Den ganzen Abend schaue ich aus dem Fenster vom Mädchenzimmer. Das Christkind ist weit und breit nicht zu sehen. Draußen schneit es so doll wie im Märchen von der Schneekönigin. Kein Mensch ist auf der Straße. Nur der Winterwind weht ab und an um die Häuserecken und fegt dabei Schnee auf. Die Autos sehen aus, als hätten sie flauschige, weiße Mäntel angezogen. Überall leuchten Weihnachtslichter. Hinter vielen Fenstern strahlen sogar schon die Lämpchen an den Tannenbäumen, und ich weiß, dort ist das Christkind schon gewesen.

Bei uns noch nicht.

Im Wohnzimmer ist es dunkel und still. Mama und Papa räumen in der Essecke den Tisch ab. Wir haben Kartoffelsalat und Würstchen gegessen, das mögen wir am liebsten am Heiligabend. Julia und Marlon warten auf die Bescherung und spielen dabei Schwarzer Peter.

Ich habe keine Lust mehr, noch länger hier zu sitzen und dem Schnee beim Schneien zuzusehen. Also klettere ich von der Fensterbank und schleiche an Marlons leerem Zimmer vorbei zum Wohnzimmer.

Ich setze mich auf den Dielenboden, den Rücken gegen die verschlossene Wohnzimmertür gelehnt, und warte in der Dunkelheit. Früher oder später muss das Christkind auftauchen. Stimmt es, dass es davonfliegt, wenn man es stört? Hoffentlich nicht! Aber es wird wohl besser sein, wenn es mich gar nicht erst bemerkt.

In der Küche unterhalten sich leise meine Eltern und im Mädchenzimmer meine Geschwister. Warten ist langweilig und macht total müde. Ein paar Mal muss ich gähnen, und gerade als ich kurz meine Augen ausruhe, höre ich es.

Hinter der Wohnzimmertür raschelt es leise. Es klingt wie das Knistern der Federn in meinem Kopfkissen. Ein süßer Duft liegt über allem. Und durch das Schlüsselloch fällt ein milder Lichtschein. Ist es so weit, frage ich mich, und das Christkind ist endlich angekommen? Ich muss mich mit eigenen davon Augen überzeugen. Sofort!

Neugierig stehe ich auf, beuge mich vor und linse durch das Schlüsselloch.

Was ich nun zu sehen bekomme, ist unglaublich – und doch ist es deutlich zu erkennen: Im Wohnzimmer, gleich neben dem Tannenbaum, steht ein märchenhafter Engel, der sieht aus wie ein Kind. Na ja, er sieht beinahe aus wie ein Kind! Denn seine Haare sind ein Leuchten, und er ist viel zu schön für einen normalen Engel! Also, wer sollte es wohl anderes sein als das Christkind? Wer?!

Es hat schneeweiße Flügel und trägt ein lichtblaues Gewand, das über und über mit flimmernden Sternen übersät ist. Mir wird ganz schwindelig, wenn ich zu lange darauf starre, deshalb lasse ich das.

Auf dem Kopf trägt das Christkind eine goldene Pudelmütze, unter der seine auffallend leuchtenden Haare hervorquellen. Die Mütze ist mit Schnee bedeckt. An den Stellen, an denen die Flocken schmelzen, tropft Wasser auf den Teppich. Das Näschen ist knallrot angelaufen von der Kälte.

In der Hand hält das Christkind ein silbernes Glöcklein. Jeder weiß, wenn dieses Glöckchen ertönt, dann ist Bescherung. Ich will leise nach Julia rufen und nach Marlon. Nach Mama und Papa und nach jedem, der das Christkind noch nie gesehen hat, und am allermeisten, auch wenn er ein paar Straßen weiter wohnt, nach dem blöden Max. Aber vor lauter Aufregung kommt kein Wort aus meinem Mund. Bloß ein Kicksen.

Deshalb reiße ich mich von dem prächtigen Anblick los. Ich stürze ins Kinderzimmer und hier finde ich meine Sprache wieder. Also schreie ich: „Stellt euch vor, ich habe das Christkind gesehen! Kommt schnell mit, es ist …“ Weiter komme ich nicht, denn in dieser Sekunde höre ich es. Und nicht nur ich, alle können wir es hören. Das Silberglöckchen!

Als ich hinter Julia und Marlon zurück zum Wohnzimmer flitze, steht die Tür weit, weit auf. Der Weihnachtsbaum erstrahlt traumschön – wie in einem Traum eben. Die Krippe steht in seinem Lichterglanz. Große und kleine Päckchen liegen unter den Tannenzweigen. Ich bleibe stehen, wo ich bin, als wäre ich verzaubert.

Als Nächstes höre ich, wie Julia, Marlon und ich gemeinsam mit Mama und Papa singen. „Ihr Kinderlein kommet“, stimmen wir an, „o kommet doch all.“ Es geschieht von ganz allein, dass wir gleichzeitig das Lied beginnen.

Mir ist ganz seltsam zumute. Warm und zittrig und fröhlich und leicht und ein bisschen so, als wenn ich zur gleichen Zeit lachen und weinen müsste und fünf Geburtstage auf einmal hätte. Ich glaube, das ist immer so, wenn das Christkind da gewesen ist. Doch ganz egal ob man es nun jemals sieht oder nicht – das Christkind gibt es wirklich! Und nur darauf kommt es schließlich an, oder?

Diese schöne Christkind Weihnachtsgeschichte stammt mit Genehmigung der Autorin aus ihrem Buch: „Mein Lieblingsweihnachtswunderbuch“

Diese Weihnachtsgeschichte und andere Geschichten von Sabine Ludwigs können mit kindle unlimited kostenlos gelesen werden.
Sabine Ludwigs schreibt viele Bücher. Ein Portrait mit ihren Buchtiteln finden Sie hier



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