Das Christkind und der Weihnachtsmann

Sandra Niermeyer

spannende Geschichte für Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter

Am klaren Nachthimmel funkelten Sterne. Dicke Schneeflocken schwebten sacht zu Boden. Die Weihnachtsmarktbuden waren geschlossen, nur die Lichtergirlanden leuchteten noch und der Geruch von gebrannten Mandeln hing in der Luft.
Auf einer Bank saß ein kleines Mädchen. Nur wenn man genau hinschaute, konnte man die Flügel auf seinem Rücken erkennen.
Es hatte die Unterlippe vorgeschoben.
Dieses Jahr hatte es kaum Aufträge bekommen. Die waren an den Weihnachtsmann gegangen. „Wenn das so weitergeht“, dachte es, „muss ich bald Sozialhilfe beantragen.“

weihnachtsmarkt

Plötzlich landete mit quietschenden Kufen ein Schlitten am Rande des Weihnachtsmarktes.
Das Mädchen fuhr hoch. „Der alte Halunke“, dachte es. Mit einem „Pling“ machte es sich unsichtbar. Gerade noch rechtzeitig, der Weihnachtsmann hatte es nicht bemerkt.
Sein Schlitten bog sich unter den Geschenken.
„Die besten Jobs gehen immer an die Männer“, dachte das Mädchen grimmig.
Der Weihnachtsmann sprang vom Schlitten, sah sich hastig in alle Richtungen um, dann untersuchte er einen Briefkasten am Rande des Weihnachtsmarktes. Er steckte seine behandschuhte Hand in den Schlitz und zog sie wieder hinaus, als wollte er die Größe prüfen. Er kletterte auf seinen Schlitten und kritzelte etwas auf einige Päckchen, dann holte er aus seiner Manteltasche Briefmarken, leckte sie ab, und klebte sie auf. Eine Marke blieb in seinem Bart hängen.
Er stopfte so viele Päckchen durch den Schlitz, bis der Briefkasten bis oben hin voll war.
Das Mädchen sah mit offenem Mund zu.
„Er hat so viele Aufträge“, dachte es, „dass er es alleine nicht schafft. Er schickt die Geschenke per Post.“

Dann verschwand der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten am Nachthimmel.
Das Mädchen war nun noch schlechter gelaunt als vorher. Da näherten sich drei Männer dem Briefkasten.
Sie sahen sich genauso verstohlen um wie der Weihnachtsmann. Das Mädchen bemerkten sie nicht, es war ja auch immer noch unsichtbar.
„Nur noch den“, sagte einer von ihnen, der eine schwarze Kapuzenjacke trug.
Ein anderer zog ein Brecheisen unter seiner Jacke hervor, brach die Klappe am Briefkasten auf, während die anderen einen Sack unter das Loch hielten und Briefe und Geschenke auffingen.
Dann verschwanden sie so schnell, wie sie gekommen waren.
Das Mädchen sprang von der Bank, breitete seine Flügel aus und folgte ihnen.
Sie brausten in einem alten Kombi über die Landstraße. Vor einer leerstehenden Hütte im Wald hielten sie an.
Das Mädchen sah durchs Fenster, wie sie Säcke voller Geschenke auf dem staubigen Boden der Hütte ausleerten. Briefe, Päckchen und Geschenke purzelten durcheinander.
Es flatterte aufgeregt von einem Fenster zum anderen. Der alte Halunke musste angerufen werden. Das Mädchen holte sein Handy aus der Rocktasche und wählte die Nummer des Weihnachtsmannes. Nicht, dass sie Freunde waren, aber die Telefonnummer der Konkurrenz kannte man einfach.

Fünf Minuten später landete der Schlitten des Weihnachtsmannes vor der Hütte.
„Mich um die Zeit aus dem Schlaf zu reißen“, schimpfte der Weihnachtsmann. „Ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir. Du weißt ja, Weihnachten. Oder arbeitest du jetzt was anderes?“
Das Mädchen überging die Frage. „Schau mal durchs Fenster“, sagte es.
Der Weihnachtsmann schnappte nach Luft.
„Verflixte Rentierköttel“, sagte er, „das sind ja die Geschenke, die ich in den Briefkästen der Stadt verteilt habe.“
Plötzlich trat einer der drei Männer nach draußen. Das Mädchen machte sich, pling, unsichtbar, der Weihnachtsmann war in Sachen Unsichtbarmachen nicht so talentiert, er scheuchte seine Rentiere samt Schlitten hinter ein paar Tannen und duckte sich.
„Gibt es hier Wölfe“, fragte der Mann, „ich habe ein Geräusch gehört.“
„Unsinn“, tönte es von innen. „Hilf uns lieber.“
Die drei machten sich daran, die Geschenke auszupacken. Sie rissen Papier und Schleifen in Fetzen.
Der Weihnachtsmann quälte sich aus den Tannen. Er war von oben bis unten mit Schnee bestäubt.
„Was machen wir nun?“, fragte er.
„Wie bitte?!“, fragte das Mädchen empört. „Du musst die Geschenke natürlich zurückholen.“
„Aber wie“, seufzte der Weihnachtsmann. „Ich bin nur ein alter Mann und du bist ein kleines Mädchen.“
„Pah“, das Mädchen reckte sich, „in meinen Flügeln habe ich soviel Kraft wie zehn Männer.“ Zum Beweis ließ es seine Flügel durch die Luft rauschen, dabei erwischte es mit der Flügelspitze ein Rad des Rentierschlittens. Das Rad riss ab, flog zwanzig Meter durch die Luft, verfing sich an einer Tannenspitze, drehte sich wie ein Hula Hoop Reifen, dann blieb es still hängen.
Die beiden sahen das Rad schweigend an.

„Na prima“, sagte der Weihnachtsmann. „Wie sollen wir denn jetzt wieder hier weg kommen?“
Das Mädchen war dunkelrot angelaufen. „Ich bin doch das Christkind, ich kann doch fliegen“, murmelte es, „im Gegensatz zu dir, du kannst ja nur mit deinem Schlitten fliegen.“
Es flatterte hoch, holte das Rad von der Tannenspitze und setzte es wieder an den Schlitten.

Der Weihnachtsmann sah ihm mit hochgezogenen Augenbrauen zu. „Beeindruckend“, sagte er, „sogar ohne Wagenheber. Am besten du gehst rein und schlägst ihnen deine Flügel um die Ohren.“
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „So etwas tut ein Christkind nicht. Gewalt ist keine Lösung. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.“
„Dann klauen wir die Geschenke eben zurück, wenn die drei nach Hause fahren“, sagte der Weihnachtsmann.
„Okay“, sagte das Christkind und blies sich in die Hände.

Sie warteten und warteten, aber die drei Männer fuhren nicht nach Hause. Erst als der Morgen milchig graute, verließen sie die Hütte und packten alle aufgerissenen Geschenke in den Kofferraum.
„Hinterher“, rief der Weihnachtsmann, als der Kombi davon brauste. „Spring auf.“
„Das wäre ja noch schöner“, maulte das Christkind, „ich kann alleine fliegen.“
Der Weihnachtsmann folgte dem Kombi mit quietschenden Kufen, über den Rentieren flatterte das Christkind.
Sie hielten am Weihnachtsmarkt. Die ersten Buden waren schon geöffnet.
Die drei Männer holten einen Tapeziertisch von der Rückbank und breiteten die ausgepackten Geschenke darauf aus.
„Sie verscherbeln das Zeug“, der Weihnachtsmann raufte sich die Haare. „Mein guter Ruf ist dahin!“
„Hättest du halt deine Arbeit gemacht“, sagte das Christkind, „und nicht die Post eingespannt.“
Der Weihnachtsmann guckte zerknirscht. „Ich bin eben nicht mehr der Jüngste.“
„Wir müssen jetzt schnell handeln“, sagte das Christkind. „Ich bin der good cop, du der bad cop.“
Der Weihnachtsmann schaute verständnislos. Er war manchmal etwas schwer von Begriff.

„Schönen guten Morgen“, sagte das Christkind zu den Männern, „ich bin das Christkind, wie Sie unschwer erkennen können. Und mein Kollege hier ist der Weihnachtsmann.“
Der Weihnachtsmann rührte sich nicht, er wusste offenbar noch nicht, welche Rolle er spielen sollte.
Die drei Männer grinsten. „Klar“, sagten sie, „und wir sind die Osterhasen. Die Ohren haben wir heute zu Hause gelassen.“
„Wir wissen es sehr zu schätzen“, fuhr das Christkind fort, „dass Sie am Heiligen Abend Ihr Diebesgut zurückgeben wollen. Sie haben eben auch ein Herz.“
Die drei sahen sich unbehaglich an.
„Meinem Kollegen hier“, sie klopfte dem Weihnachtsmann auf die Schulter, „gefällt es gar nicht, wenn man seine Geschenke stiehlt, da kann er ganz ungemütlich werden.“
Der Weihnachtsmann schaute finster unter seinen dichten Augenbrauen hervor. So langsam wuchs er in seine Rolle hinein.
„Wenn Sie die Geschenke zurück geben, will er noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen, und Sie nicht seinen Rentieren zum Fraß vorwerfen.“
Der Weihnachtsmann stieß einen leisen Pfiff aus und wie auf Kommando erschienen die Rentiere und scharrten böse mit den Hufen. Sie waren gutmütige Kerle, die keiner Fliege etwas zuleide taten, aber so grimmig aus der Wäsche zu gucken machte ihnen viel Spaß.
„Die haben wir nicht geklaut“, sagten die Männer nervös. „Die haben wir bei ebay ersteigert.“
„Selbstverständlich“, sagte das Christkind, „und meine Flügel sind nur aus Pappmache.“ Es ließ seine Flügel durch die Luft rauschen und der Tapeziertisch geriet bedenklich ins Wanken. „Zum Glück habe ich dieses Mal nicht den Rentierschlitten erwischt“, dachte es insgeheim.
„Ab ins Auto“, sagte der Weihnachtsmann mit tiefer Stimme, „zurück zur Hütte, und dann werden die Geschenke wieder zugeklebt.“

Der Weihnachtsmann folgte dem Kombi, das Christkind machte einen kurzen Abstecher in einen Schreibwarenladen und kaufte Tesafilm. Sie kamen gleichzeitig an der Hütte an.
Die drei Männer packten die Geschenke wieder in die richtigen Päckchen und klebten sie zu. Sie verbrauchten meterweise Tesafilm, weil sie im Geschenke einpacken nicht so gut waren.
Nach einer Stunde wischten sie sich den Schweiß ab. „Muss das wirklich alles heute sein“, fragten sie. „Wir können nicht mehr.“
Der Weihnachtsmann grunzte empört. „Heute ist Heiligabend, soll ich die Geschenke etwa erst morgen ausliefern?“
Darauf wussten die Männer nichts zu wechseln. Am Ende war jedes Geschenk im richtigen Päckchen. Das Geschenkpapier sah zwar ramponiert aus, aber das Christkind hatte Tesafilm mit Goldschimmer gekauft, und so sah es aus, als müsste das so.
„Ihr wartet hier“, befahl der Weihnachtsmann, „während meine kleine Helferin und ich die Geschenke verteilen. Rührt euch nicht vom Fleck, sonst fressen euch meine Rentiere.“

„Kleine Helferin“, schnaubte das Christkind, als sie vor der Hütte waren.
„Ich bin das Christkind! Das Christkind mit den zwei Meter großen Flügeln! Ich fliege schneller als der Blitz!“
„Jaja, schon gut“, sagte der Weihnachtsmann. „Hilfst du mir nun, oder nicht? Alleine schaffe ich es nicht.“
„Unter einer Bedingung.“ Das Christkind lehnte sich an den Schlitten. „Du nimmst die Zeitungsmeldung zurück.“
„Welche Zeitungsmeldung?“ Der Weihnachtsmann sah das Christkind unschuldig an, aber seine Backen verfärbten sich dunkelrot.
„Du weißt was ich meine, alter Halunke“, sagte das Christkind. „Du hast letztes Jahr in die Zeitung setzen lassen, dass alle großen Wünsche an den Weihnachtsmann geschickt werden sollen, weil nur sein Schlitten die großen Geschenke tragen kann. Die kleinen Wünsche sollten an das Christkind gehen, denn es sei klein und schwach und könne nicht viel tragen. Und weil die meisten Kinder große Wünsche haben, haben sie ihre Wunschzettel nur an dich geschickt.“
Der Weihnachtsmann schaute zerknirscht. „Letztes Jahr wusste ich ja auch noch nicht, wie stark du bist“, murmelte er. „Ich verspreche dir, wenn du mir hilfst, nehme ich die Zeitungsmeldung zurück und sage, dass du soviel Kraft wie zehn Männer hast.“
Bei den Worten knarrte das Schlittenrad.

Sie machten sich mit zwei Rentieren auf den Weg, die anderen beiden Rentiere blieben vor der Hütte und schauten grimmig durch das Fenster.

Nach der Bescherung kamen das Christkind und der Weihnachtsmann zurück zur Hütte, in der die drei Männer immer noch frierend saßen.
Das Christkind packte Weihnachtsplätzchen aus, der Weihnachtsmann legte ein paar Holzscheite in den Ofen und machte ein behagliches Feuerchen, dann goss er Weihnachtspunsch in einen Kessel und hängte ihn über das Feuer.
Die drei Männer machten große Augen, aber noch größere machten sie, als das Christkind jedem von ihnen ein Geschenk überreichte.
„Wir wollten uns nicht lumpen lassen“, sagte es. „Auch ihr sollt ein paar Wünsche erfüllt bekommen.“
Die drei wussten gar nicht, was sie sagten sollten.
„Wir berauben euch, und ihr schenkt uns was“, murmelten sie verlegen.
„Ab jetzt“, sagte das Christkind, „feiert ihr jedes Jahr Weihnachten mit uns, damit ihr nicht auf dumme Gedanken kommt.“

Und dann konnte man aus der Hütte Gelächter hören, und sogar das ein oder andere Weihnachtslied, obwohl der Weihnachtsmann schrecklich schief sang, und immer wieder den glockenhellen Sopran des Christkindes niederbrummte. Aber das machte ausnahmsweise gar nichts, denn jeder, der durch das Fenster in die Hütte geschaut hätte, hätte sehen können, dass die drei Diebe, die dort inmitten der Kerzen saßen und Weihnachtsplätzen aßen und Punsch tranken, und zusammen mit dem Christkind und dem Weihnachtsmann aus vollem Halse „Oh du fröhliche“ schmetterten, das erste Mal seit Jahren wieder glücklich waren.

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