Weihnachten anno 1954

Erinnerungen von Alois Keiblinger

Wahre Weihnachtsgeschichte aus der Kriegszeit.

Wahre, traurige Weihnachtsgeschichte aus dem Leben im Jahr 1954 (und früher) in gesamt 10 Kapitel. Auch als PDF verfügbar. Wichtig! Krieg Weihnachtsgeschichte – nur eingeschränkt für Kinder geeignet!

Erstes Kapitel: Ein Kind ist geboren

Baby

Es ist ein sonniger Tag im Frühjahr 1954, als der Holzfäller seine Gattin, die vor kurzem ein Kind geboren hatte, aus der Klinik abholt.

Für den kräftigen, an grobe Arbeit gewöhnten Mann war es nicht einfach gewesen, die anderen beiden Kinder zuhause im Alter von einem und vier Jahren  zu versorgen, während seine Frau das dritte Kind im Spital zur Welt brachte.

Aus diesem Grund hat die arme Frau die Klinik gleich am Tag nach der Geburt wieder verlassen müssen.

Sie stapfen durch den matschigen Schnee die schmale, gewundene Straße aufwärts.

Die Frühlingssonne hat heute schon ganze Arbeit geleistet, in kleinen Bächen fließt das Schmelzwasser talwärts. Auf den Wiesen sieht man schon die ersten Frühlingsblumen durch das winterliche Weiß blinzeln.  Es wird nicht mehr lange dauern und der Schnee wird gänzlich verschwunden sein.

Unterwegs treffen sie immer wieder Bekannte, die ihnen zur Geburt des Kindes gratulieren. Als sie ca. die Hälfte des Weges hinter sich haben, kommt ihnen die Frau des Pferdefuhrwerkers entgegen. „Ja, wen habt ihr denn da im Arm? Ist das euer Jüngstes? Lasst es mich doch mal ansehen!“

Der Vater, der das Kind in einer Decke im Arm trägt, schlägt diese auf und beginnt den Wickelpolster des Babys aufzuwickeln. Er stellt sich dabei so ungeschickt an, dass ihm seine Frau das Baby abnimmt und dabei feststellen muss, dass er das Kind die ganze Zeit verkehrt herum – mit dem Köpfchen noch unten – getragen hatte.

„Mei ist das Kind süß, so klein und zart, die Händchen und Füßchen so winzig!  Wie strahlend blau die Augen sind, und blonde Löckchen hat es auch schon!

Ist bestimmt ein Mädchen, ja?  Wie wird es denn heißen?“

Die Mutter ist von der Geburt und von dem weiten Weg in der frischen, kalten Luft noch ziemlich mitgenommen. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn es ein Mädchen geworden wäre. Es wär halt einfach praktisch gewesen, denn sie hatte schon ein Mädchen welche aus ihren Sachen rausgewachsen war. Es war zwar auch ein Bub da, doch dieser war erst ein Jahr alt, zu wenig Altersunterschied  für die Wiederverwendung von Kleidung!

Und die Anschaffung von neuer Kinderkleidung wird finanziell ein großes Problem werden.

Die letzten Tage der Schwangerschaft waren schwierig gewesen. Es gab niemanden, der ihre harte Arbeit erledigt hätte. Bis zuletzt hatte sie gekocht, die Kinder versorgt, die Sachen für das Baby vorbereitet. Vor allem die Wäsche zu waschen war ihr sehr schwer gefallen. Den Waschküchenofen anzuheizen, die Wäsche auszukochen, mit der Waschrumpel zu reinigen und dann noch zu spülen und auszuwinden, das war für eine Hochschwangere echt unzumutbar. Doch was sollte sie machen, der Mann konnte oder wollte ihr dabei einfach nicht helfen. Wenn sie wenigstens eine von diesen einfachen, handbetriebenen Wäschepressen gehabt hätte  – allerdings war eine solche finanziell momentan nicht leistbar. Sie waren froh, wenn das Geld für einfaches Essen reichte.

Langsam hatte die Frau das Gefühl, aus ihren Problemen nie rauszukommen. Und dann kam auch noch diese nicht geplante Schwangerschaft.

Langsam fragte sie sich, wofür sie Gott bestrafen wollte.

 Nach dem Krieg war sie mit ihren Eltern aus dem Sudetenland ausgesiedelt worden. Dort hatten sich ihre Eltern im Laufe der Jahre eine gutgehende Existenz mit einem Bauernhof aufgebaut. Ihre Familie waren wohlhabende, geachtete Leute gewesen. Der Vater war jahrelang Ortsvorsteher –  nach dem Krieg hatte man ihnen alles weggenommen, von einem Tag auf den anderen mussten sie ihre geliebte „Hoamat“ verlassen – obwohl sie alles andere als Nazis waren.

Ihr Vater hatte die Aussiedelung nicht überlebt, ein Teil der Familie war nach Deutschland gegangen, der Rest war in Österreich untergekommen, in der Nähe Wiens.

Da hatte sie auch ihren späteren Mann kennengelernt, der soeben aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war. Dieser hatte einen Job als Holzfäller bekommen  –  und als Wohnmöglichkeit ein Holzblockhaus tief im Wald.

Dort gab es allerdings keinen Strom, kein Gas, keinen Kanal, keine Wasserleitung – und jetzt hatten sie schon drei Kinder!

Doch das war gottgewollt  –  der Herr weiß was er tut, es ist einfach sein Wille, dass es so kommt wie es kommt.

 Als sie in der Klinik das neugeborene Baby auf dem nackten Bauch liegen hatte, war sie von ihren Gefühlen übermannt worden. Dieses winzig-kleine bisschen Mensch, so hilflos, so ausgeliefert.

Ihre Mutterinstinkte waren plötzlich so stark, dass sie das Gefühl hatte, Berge versetzen zu können. Gott hatte ihr dieses kleine Wesen geschenkt, es war gesund und das war alles was zählte. Alles andere war nur von ihr abhängig. In ihren bisherigen 31 Lebensjahren hatte sie schon viele Probleme zu bewältigen gehabt, sie wird auch dieses lösen.

Sie wird dafür sorgen, dass dieses kleine Ding eine Chance im Leben bekommt, eine bessere Chance als sie gehabt hatte!  Und es war völlig egal, dass es ein Bub und kein Mädchen geworden war.
 „Es ist ein Bub, er wird Alois heißen!“ ist ihre knappe Antwort.

Zweites Kapitel: Der Krampus kommt

krampus

Es ist Mitte Dezember des Jahres 1957. Weihnachten steht vor der Tür und die Kinder bemühen sich, besonders brav und folgsam zu sein um vom Christkind entsprechend beschenkt zu werden.
Die Familie ist gewachsen, inzwischen leben in dem Blockhaus im Wald 4 Kinder mit ihren Eltern, ein fünftes ist unterwegs. Der Vater ist als Holzfäller bei den Bundesforsten beschäftigt, die Mutter versorgt den Haushalt und die Kinder. Und sie betreut auch die Tiere, die für den Eigenbedarf gehalten werden.

Das Anwesen der Familie besteht aus einem Wohnhaus mit 2 Räumen – eine Wohnküche und ein Schlafzimmer – und gegenüber, durch einen etwa 8m breiten Hof getrennt eine etwa gleich große Scheune, die als Stall genutzt wird. Angebaut an der Scheune ist auch noch eine gemauerte Waschküche mit einem, in den Hang gegrabenen Erdkeller.

Das Wohnhaus hat noch einen kleinen Vorraum, der zugleich als Speisekammer Verwendung findet. Außerdem gibt es im hinteren Teil der Wohnküche ein räumlich abgetrenntes, einfaches Plumpsklo, mit einem Holzbrett als Sitz, das in der Mitte ein Loch aufweist und von einem runden Holzdeckel abgedeckt wird.
Der 3-jährige Luisi wär bei einer „Sitzung“ fast einmal in das Loch gefallen, seither darf er wieder den Topf benutzen. Nicht auszudenken was passieren hätte können, wenn er in der unterhalb befindlichen, vollen Jauchengrube gelandet wäre.
 Es ist Samstag, draußen ist es bereits stockdunkel als die Mutter die Blechwanne zum Baden in der Wohnküche aufstellt. Die Scheibe des Küchenfensters ist mit einer dicken Eisschicht überzogen, entstanden aus Küchendunst, der an dem eiskalten, einfachen Fensterglas kondensiert und gefriert. Im Licht der an der Decke hängenden Petroleumlampe bereitet die Mutter ein Bad für ihre 4 Kinder vor. Samstag ist Badetag, der einzige Tag in der Woche an dem gebadet wird. Morgen wird die Familie, wie an jedem Sonntag, sauber und adrett die Hl. Messe besuchen.
Der Inhalt des Wasserkessels, der sich seitlich am Küchenherd befindet, wird in die kleine Badewanne geleert, welche in die Mitte des Raumes gestellt wurde. Die 15 Liter heißen Wassers werden mit ebenso viel kaltem Wasser ergänzt, um die Badewanne etwa zu einem Drittel zu füllen.
„Komm Helen, du badest als erste“, sagt die Mutter.
Das 7-jährige Mädchen mit den langen, braunen Zöpfen schlüpft aus ihren Kleidern und steigt in die Wanne. Sie beginnt sich mit einer kaum schäumenden Schichtseife abzuwaschen. Anschließend macht die Mutter ihr die Zöpfe auf und wäscht ihr die Haare. Die ganze Prozedur darf nicht länger als 10- 15 Minuten dauern, denn es warten noch weitere 3 Kinder auf das wöchentliche Vollbad. Anschließend, wenn die Kinder im Bett sind, wird auch die Mutter baden.
Während sich Helen abtrocknet, widmet sich die Mutter dem ältesten Sohn Otto. Sie seufzt hörbar während sie ihn mit Wasser und Seife bearbeitet, denn Otto ist immer extrem schmutzig.
„Mama, das Wasser ist schon kalt, kannst du bitte noch heißes dazugeben?“
Die Mutter geht zum Herd und prüft die Temperatur im offenen Wasserkessel.
“Na ja, es ist zwar noch nicht heiß, aber ein paar Liter kann ich schon nachfüllen!“ Zum zweiten Sohn gewandt sagt sie: „Luisi, bitte ergänzt du die entnommene Menge hier im Warmwasserkessel wieder mit kaltem Wasser?“
 Die junge Frau hatte sich ihr Leben als Erwachsene anders vorgestellt. Sie war zwar von Kind an gewohnt gewesen zu arbeiten, doch eine Situation wie die, in der sie sich befand, hatte sie sich in ihren düstersten Gedanken nicht vorstellen können. Inzwischen war sie 34 Jahre alt und schon Mutter von 4 Kindern – und ein fünftes ist unterwegs; wie unschwer an der Form Ihres Unterbauches zu erkennen, ist sie bereits hochschwanger.
Sie liebt ihre Kinder, doch manchmal hat sie das Gefühl, dass sie vor Arbeit keine Luft zum Atmen bekommt. Wenn wenigstens ihr Mann auch etwas im Haushalt beitragen würde. Doch der zieht es vor, ins Gasthaus zu gehen, wenn sie ihn um Hilfe bittet – um dort das Geld, das sie so dringend für die allernotwendigsten Dinge gebraucht hätte, für alkoholische Getränke auszugeben.
Deshalb hatte sie begonnen, sich Tiere anzuschaffen. Hühner, für den Sonntagsbraten und der Versorgung mit Eiern; außerdem hatte sie ein Ferkel im Stall, das in absehbarer Zeit Fleisch für ein ganzes Jahr liefern würde. Und dann standen dort noch 2 Ziegen, die Milch gaben.
Die Haltung der Ziegen war nicht optimal, sie gaben für die große Familie zu wenig Milch und auch nicht von der Qualität, die sie gewohnt war. Deshalb hatte sie beschlossen, diese Ziegen bei nächster Gelegenheit gegen ein weibliches Kalb einzutauschen. Später kann sie die Milch der Kuh auch an die Bewohner der Umgebung weiterverkaufen, so wie sie es zum Teil schon mit den Eiern der Hühner macht. Die Tierhaltung ist etwas, von dem sie was versteht, denn sie war auf einem Bauernhof aufgewachsen.
Sie hatte auch einen Gemüsegarten angelegt, wo sie Kartoffel, Kraut, Karfiol, Kohl, Kohlrabi, Karotten, Gurken, Paradeiser und vieles andere anbaut um die Familie mit den notwendigsten Nahrungsmitteln selbst versorgen zu können.
Sie hatte zuerst die Tochter zur Welt gebracht, dann hatte sie eine Verschnaufpause von 3 Jahren gehabt. Dann gebar sie 3 weitere Kinder, allesamt Buben, im Abstand von je einem Jahr. Dann waren wieder 3 Jahre Pause – und jetzt noch eine Schwangerschaft. Wenn es eine Familienplanung für sie gegeben hätte, so hätte die sicher anders ausgesehen. Aber nach ihrem Verständnis hatte sie von Gott eine Rolle übernommen und die wollte sie auch bestmöglich spielen – die Mutterrolle!
Als sie Fritzi – das kleinste der Kinder – abtrocknet, fragt dieser neugierig: „Mama, wenn das Christkind kommt, das ist nicht so böse wie der Krampus neulich, oder? Und woher weiß es, dass ich mir ein Spielzeugauto wünsche? Und wie kommt es durch die geschlossene Tür ins Zimmer? Wo wohnt es eigentlich und was macht es das restliche Jahr über?“
Die Mutter lächelt das Kind an und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. „Wisst ihr, das Christkind weiß alles und kann alles. Aber es straft niemanden, manchmal aber, wenn Kinder besonders schlimm sind, dann finden sie als Strafe kein Geschenk unter dem Weihnachtsbaum!“
Als das Wort Krampus fällt, zuckt Luisi zusammen.
Vor 2 Wochen, am 5. Dezember, hatte er mit Spannung auf den Vertreter der Hölle gewartet. Den ganzen Abend schon hatte er die Mutter gebeten die Haustür zuzusperren und den Krampus nicht hereinzulassen. Sie aber hatte nur gemeint, dass er auch durch die geschlossene Tür komme und außerdem tut der Krampus braven Kindern nichts, nur schlimme Kinder nehme er in seiner Butten mit in die Hölle.
Das aber hatte Luisi nicht wirklich beruhigt, denn er war sich nicht mehr sicher, ob er das ganze Jahr über wirklich brav gewesen war. Was, wenn diese grausliche Gestalt ihn heute in seine Butten steckt? Noch dazu, wo der Vater wieder einmal nicht da war, denn der war stark genug und würde das bestimmt nicht zulassen!
Dann hatte die Mutter gesagt, er solle nur fleißig beten wenn der Krampus kommt, denn betende Kinder nimmt er nicht mit.
Doch als dann der Krampus wirklich da war, hat das überhaupt nichts genutzt. Dieser hatte sich schon draußen vor dem Küchenfenster mit lautem Kettenrasseln angekündigt. Sofort hatten die Kinder laut zu beten begonnen.
Mit viel Getöse war er in den Vorraum eingedrungen, mit einer riesigen Tragebutten am Rücken. Die war so groß, dass er damit nicht durch die Küchentür passte und er sie deshalb draußen stehen lassen musste. Luisi dachte mit Schaudern, dass in seiner Butten bestimmt mehrere Kinder Platz hätten, möglicherweise waren sogar schon welche drinnen.
Rückblickend konnte er sich nicht daran erinnern, einen Pferdefuß bei ihm gesehen zu haben. Sein Fell war jedenfalls total zottelig, und von seinem Gesicht war nicht wirklich viel erkennbar. Die 2 Hörner aber hat er gesehen, da war er sich ganz sicher!
Der Krampus hatte eine Weidenrute in der Hand, mit der er auf die Kinder einschlug, die sich daraufhin sofort unter dem Tisch verkrochen. Schützend hatte sich die Mutter vor den Tisch gestellt, und hat dabei auch ein paar Schläge mit der Rute abbekommen. Und dann hat der Krampus mit seiner riesigen Pranke unter den Tisch gegriffen und einen Fuß von Luisi zu fassen bekommen.
Das war vielleicht ein Schock! Heute noch bekommt Luisi Herzrasen wenn er nur daran denkt. Er hat sich schon in des Teufels Butten gesehen, wie die Füße oben herausragen, auf dem Ritt in die Hölle.
Aber dann ist die Mutter energisch eingeschritten und der Krampus hat von ihm abgelassen.
Letzten Endes ist noch alles gut gegangen, als der Krampus ging, hat er sogar noch einen weißen Leinensack mit Nüssen, Äpfel und Mandarinen dagelassen.
Nachdem die Kinder den Inhalt aufgeteilt hatten, waren Luisis Anteil 3 Äpfel,            2 Mandarinen, mind. 20 Schantinüsse und 3 Walnüsse gewesen.
Die Mandarinen hat er gleich gegessen, die Äpfel jedoch, die hat er sich eingeteilt: jeden Tag einen halben Apfel, das reichte fast für eine ganze Woche.
 Doch die Zeit der Angst vor dem Krampus ist vorbei. Jetzt ist die Stimmung vorweihnachtlich, mit allem was dazugehört: Mit dem Duft von brennendem Reisig, das die Mutter nachmittags immer auf die heiße Herdplatte legt. Mit dem Backen von Weihnachtsbäckereien, bei dem die Kinder mithelfen. Mit dem Anzünden von den Kerzen am selbstgeflochtenen Adventkranz, der unübersehbar an der Decke in der Mitte des Raumes hängt. Und mit dem Singen von Weihnachtsliedern am Abend unter dem Adventkranz.
Bald schon wird Weihnachten sein. Das Christkind wird bestimmt viele Geschenke bringen; zumindest ein Stück für jedes der Kinder! 

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Drittes Kapitel: Stallarbeit

Die Petroleumlampe, die über dem Küchentisch hängt, wirft ein rußig-diffuses Licht in den Raum. Über dem Tisch ist das Licht einigermaßen brauchbar, in den Ecken des Raumes ist es jedoch stockdunkel, zusätzlich projizieren die Schatten der um den Tisch sitzenden Kinder ein gespenstisches Bild an die umliegenden Wände.

Es ist ein Tag im März des Jahres 1959, die große Uhr an der Wand zeigt auf 5 Minuten nach drei Uhr.

Die Mutter steht am Herd und bereitet das Abendessen zu – es gibt Krautfleckerl. Natürlich mit selbstgemachten Fleckerl und Kraut aus dem Gemüsegarten.

Ihr Blick fällt auf die Uhr: „Luisi, du hast vergessen, die Uhr aufzuziehen, sie ist stehengeblieben. Du weißt doch, dass das Deine Aufgabe ist?“

Der angesprochene, vor kurzem 5 Jahre alt gewordene Bub steht sofort auf. Er hat sich damit abgefunden „Luisi“ genannt zu werden, obwohl er eigentlich Alois heißt – und das hat er erst am letzten Geburtstag erfahren.

Es war ihm immer sehr peinlich, wenn ihn fremde Leute fragten: „wie heißt du denn Kleines?“ Peinlich auch deshalb, weil er sehr häufig in den Kleidern seiner großen Schwester herumlaufen musste – und die Leute dann immer davon ausgingen, dass sie es mit einem Mädchen zu tun hatten.

Aber er hatte nun mal nur eine Hose, wurde diese gewaschen, so hatte er zumindest für 2 Tage die Kleider seiner Schwester zu tragen – im Winter manchmal auch drei Tage, das hing davon ab, wie lange es dauerte bis die Hose trocken war. Und sie trocknete deswegen so langsam, weil sie nach dem Waschen nur mit der Hand ausgewunden wurde.

Die Leute, die ihn fragten, waren Wanderer, die bei Schönwetter am Wochenende meist in kleinen Gruppen am Waldweg vorbeikamen. Meist Wiener, die den Sonntag zum Wandern in freier Natur im Wienerwald nutzten. Dazu kamen sie mit dem Zug bis Purkersdorf.

Luisi mag diese Fremden nicht besonders, sie sprechen irgendwie eine andere Sprache die er kaum versteht. Die Mama hat einmal gesagt, dass das Hochdeutsch ist und die Kinder irgendwann in der Schule diese Sprache lernen müssen.

Diese Leute sind meist auch ziemlich blass, tragen selbst im Sommer feste Schuhe, während er immer bloßfüßig herumläuft. Und sie behandeln ihn wie ein Wesen vom Tiergarten.

Aber im Grunde sind sie nett. Manchmal haben sie auch ein Stück Schokolade, oder ein Zuckerl dabei, das sie ihm schenken. Dann tätscheln sie seinen blondgelockten Kopf und fragen immer das Gleiche: „Wie heißt du denn?“

Es ist ihm schrecklich peinlich, mit „ LUISI“ antworten zu müssen. Denn darauf folgt meist die Frage: „Kommt das von Luise oder Aloisia?“

An seinem 5. Geburtstag hatte er erfahren, dass er eigentlich ALOIS heißt. Die Mutter hatte ihm, wie in der Familie zu solchem Anlass üblich, ein Ei gekocht. Er hatte sich aussuchen können, ob als Spiegelei oder hartgekocht. Er hatte sich diesmal für hartgekocht entschieden.

„Alois“, hatte die Mutter gesagt und ihm das Ei gereicht, „du bist jetzt 5 Jahre alt und somit schon ein großer Bub, ich gratuliere dir herzlich zum Geburtstag!“ Sie hatte ihn umarmt und seinen Po getätschelt.

„ Aber als großer Bub hast du von jetzt an auch Verpflichtungen. Du weißt dass ich dich sehr lieb hab, trotzdem wirst du von jetzt an mithelfen müssen. Sowohl im Haushalt als auch bei den Tieren, du musst langsam lernen, dass es im Leben nichts umsonst gibt, denn wer essen will, muss auch arbeiten!“

Das war für Luisi nichts Neues gewesen und auch bisher hatte er nach seinen Möglichkeiten mitgeholfen. Neu für ihn war aber, dass er ja eigentlich Alois hieß!

Wurde er seither gefragt, wie er denn heiße, so hat er von nun an mit „Alois“ geantwortet.

Von den Familienmitgliedern wurde er jedoch nach wie vor „Luisi“ gerufen.

Jetzt steht er auf und dreht sich nach dem einzigen Zeitmessinstrument der Familie um, das über ihm an der Wand hängt. Er nimmt den Schlüssel, der an einem Band unter der Uhr baumelt und beginnt diese aufzuziehen. Sofort ist das laute Tick-Tack des Uhrwerks zu hören.

„Du, Mama, wohin soll ich die Zeiger stellen?“, fragt der Bub, der mit dem Ablesen der Zeit noch nicht so richtig vertraut ist.

Die Frau horcht ein wenig nach draußen. „Da die Kühe noch nicht zu hören sind, und die Hühner schon seit Längerem im Stall, nehme ich an, es wird so gegen 18 Uhr sein. Stell einfach den kleinen Zeiger auf 6 und den großen auf 12.

Der Bub, der stolz darauf ist, die Zahlen des Ziffernblattes schon zu beherrschen, tut was ihm aufgetragen wird.

Die Mutter bückt sich und legt ein Holzscheit im Ofen nach.
„Otto, sag mal, hast du vergessen Feuerholz reinzubringen, es sind nur noch drei Stück da! Du weißt doch, das Holz brennt schlecht wenn es kalt und feucht ist. Es muss hier mehrere Stunden beim Ofen liegen um zu trocknen. Lauf schnell und hol welches rein, ich hoffe, dass du es nicht erst hacken musst.“

Der angesprochene 6-jährige Bub, der auch am Tisch sitzt, versucht zu verhandeln: „Du Mama, es ist kalt draußen! Außerdem ist für heute wahrscheinlich genug Holz da. Kann ich das nicht morgen machen?“

Die Mutter schaut ihm mit festen Blick in die Augen: „Das kommt nicht infrage! Wenn ich frühmorgens einheizen will und habe dazu kein trockenes Holz, dann hab ich ein Problem! Du gehst sofort raus und bringst welches!“

Die Mutter nimmt die Sturmlampe vom Haken an der Wand, zündet sie an und stellt sie zur Eingangstür. Maulend und widerwillig steht Otto vom Tisch auf und geht ins Vorzimmer um sich die Winterjacke und Stiefel anzuziehen. „Immer muss ich das machen! Warum immer ich? Da sind doch auch noch andere da!“

15 Minuten später sitzen alle am Tisch, in der Mitte steht der dampfende Topf mit den Krautfleckerl.

Die Mutter faltet die Hände, die 4 Kinder tun es ihr nach.

Nach ein paar Sekunden der Besinnung beginnt sie das Dankesgebet, indem sie zuerst an der Stirn, dann am Kinn und zuletzt an der Brust mit dem rechten Daumen ein kleines Kreuzzeichen macht und dazu folgende Worte gemeinsam mit den Kindern spricht: „ Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.“

Dann wieder eine kleine Pause.
„Herr, wir danken dir für diese Gabe! Sei Gast an unserem Tisch; schenke uns Frieden, Kraft, Gesundheit und ein langes Leben – Amen.“

Dann folgt wieder von allen gemeinsam das Kreuzzeichen mit: „Im Namen des Vaters, …“

Der Topf mit den Krautfleckerl ist schnell leergegessen. Es gibt keine Teller, jeder hat einen Löffel und alle essen direkt aus dem Topf.

Die Mahlzeiten werden immer gemeinsam eingenommen, hier gilt ganz unmittelbar die Regel: „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, denn der muss sich mit einem Schmalzbrot begnügen.

Nach dem Essen steht die Mutter vom Tisch auf. „Helen, du schaust nach dem kleinen Burli, wenn er aufwacht, gibst du ihm das Flascherl das ich vorbereitet hab!“

Burli – oder Josef wie er wirklich heißt – ist der kleinste Spross der Familie, im Jänner ist er ein Jahr alt geworden.

Die Mutter macht sich Sorgen wegen der Abwesenheit des Vaters. Seine Arbeit als Holzfäller im Wald war schon seit Stunden zu Ende. Doch heute war Freitag, heute gab es Geld. Hoffentlich trägt er es nicht wieder zum größten Teil gleich ins nächste Gasthaus!

„Auf Papa brauchen wir nicht mehr zu warten, der ist wieder irgendwo eingekehrt“, die Mimik der Frau wirkt besorgt, „darum müsst ihr mir bei der Betreuung der Tiere helfen, dafür erzähl ich euch beim Melken der Kühe das Märchen von Hänsel und Gretel – und dem Knusperhaus!“

Die drei Buben im Alter von 4, 5 und 6 Jahren sind sofort begeistert. „Ja, Mama – wir helfen dir. Aber dass du uns diese Geschichte von Hänsel, Gretel, der Hexe und dem Knusperhaus auch wirklich ganz genau erzählst!“

Die Mutter schlüpft in ihre alte Stallkleidung, zieht noch eine dicke Jacke darüber und achtet darauf dass sich auch die Kinder warm anziehen. Dann nimmt sie die alte, petroleumbetriebene Sturmlampe vom Haken und zündet sie an.

Draußen ist es bitterkalt. Bis zum Stall sind nur ein paar Schritte über den Hof zu gehen, da es aber stockdunkel ist, bleiben die Kinder dichtgedrängt bei der Mutter. Diese öffnet die äußere Stalltür und schlägt die dicke Decke zur Seite, die als Kälteschutz innen vor der Tür hängt. Sofort werden sie von den Kühen mit lautem „Gemuhe“ begrüßt – sie wissen genau, dass sie jetzt was zu Fressen bekommen.

Der Stall besteht aus drei Abteilungen; ganz links die Futterkammer, in der Mitte beim Eingang der Hühnerstall und rechts der größte Raum, der Kuhstall. Bis vor einem Jahr gab es hier auch noch Schweine, allerdings waren nicht ausreichend Essensabfälle vorhanden um die Schweine durchzufüttern. Darum hatte man beschlossen, diese Tiergattung aufzugeben.

Die Hühner sitzen schon längst schlafend auf ihren Sprossen, schon bei Anbruch der Dunkelheit kommen sie durch ein kleines offenes Loch in der Tür in den Stall. Sie holen sich ihre Nahrung selbst aus den umliegenden Wäldern, bei sehr winterlichen Bedingungen wird hauptsächlich Kukuruz zugefüttert, welcher dann in einem kleinen Hühnertrog vor dem Stall für sie bereit steht.

Die Mutter hält die Sturmlampe in die Höhe und wartet bis das letzte Kind im Stall ist und die Außentür wieder geschlossen werden kann. Dann schiebt sie den Riegel der Kuhstalltür beiseite und alle treten ein.

Im Kuhstall ist es wärmer als man auf Grund der Außentemperatur annehmen könnte. Die Tiere geben viel Körperwärme ab, zusätzlich wärmt auch der Mist infolge einer stattfindenden chemischen Reaktion. Doch das ist den Anwesenden egal, wichtig ist lediglich, dass es angenehm warm ist. Und an den Stall-Geruch gewöhnt man sich auch bald, schon nach wenigen Minuten wird er nicht mehr als sehr störend empfunden.

Die Tiere, 2 Kühe und ein Jungstier sind inzwischen schon sehr unruhig. Sie muhen laut und stampfen ungeduldig mit den Hufen.

Die Mutter hängt ihre Sturmlampe an einen Haken an der Wand und zieht sich die dicke Jacke aus. „ Otto, du gibst den Kühen das Wasser und vergiss nicht, Futtermehl hineinzustreuen!“

Otto, das älteste der Kinder, ist schon ein alter Hase bei diesen Tätigkeiten. Er geht rüber in die Futterkammer und kommt mit einem Kübel Futtermehl zurück, welches er mit der Hand auf das Wasser der – während des Tages bereitgestellten – Wasserkübel streut. Beim Tränken der Tiere muss er besonders vorsichtig sein, denn solange sie unruhig auf ihrem Platz herumtänzeln, kann es leicht sein, dass er beim Herantragen des Kübels zum Kopf des Tieres von diesem an die Wand gedrückt wird.

Mit deutlich hörbarem Sauggeräusch schlürfen die Tiere das Wasser-Futtermehlgemisch auf. Sie haben die Schnauze im Kübel, sobald sie saugen, kann man beobachten wie schnell der Wasserspiegel im Kübel sinkt.

„Fritzi, du holst Heu aus der Futterkammer und gibst es den Tieren in den Futter-Trog. Und wir beide“, dabei sieht sie Luisi an, „wir zwei werden den Stall ausmisten!“

Sobald die Tiere ihr Wasser haben, wird es augenblicklich ruhig im Stall. Luisi und die Mutter entfernen mit der Mistgabel den groben Kuhmist in den Halteboxen der Tiere und streuen frisches Stroh – das Otto aus der Futterkammer gebracht hatte – auf.

Der Mist wird dann durch ein kleines Türl, das sich seitlich an der Außenwand des Kuhstalles befindet, direkt auf den Misthaufen geworfen.

Da sie nur eine Lichtquelle zur Verfügung haben, muss vieles teilweise in totaler Finsternis erledigt werden, vor allem alles, was mit der Futterkammer zu tun hat.

Nachdem der Stall ausgemistet und die Tiere getränkt sind, hört man nur noch das Geräusch der mahlenden Kiefer der Tiere beim Fressen des Heues.

Die Mutter sitzt auf einem rohen Holz-Schemel beim Euter einer Kuh und hat sich einen Milchkübel zwischen die Knie geklemmt. Mit zarter Hand beginnt sie das Euter der Kuh zu streicheln um das Tier auf das bevorstehende Melken einzustimmen. Wichtig sind dabei auch warme Hände, Kühe mögen es überhaupt nicht am Euter mit kalten Händen angefasst zu werden. Um warme Hände zu bekommen, hatte sich die Mutter vorher eine Zeitlang ihre beiden Handflächen kräftig aneinander gerieben.

Jetzt umfasst sie mit je einer Hand zwei Zitzen und übt von oben nach unten wirkend einen gleitenden Druck aus. Sofort schießt die Milch mit kräftigem Strahl aus den Zitzen in den Milchkübel. Ihre beiden Hände wechseln sich beim Melken ab, dabei entsteht ein typisches Melkgeräusch, hervorgerufen durch den Milchstrahl beim Auftreffen im Kübel: tschii-tschi; tschii-tschi; tschii-tschi; tschii-tschi…

Der Vater ist üblicherweise sehr ungeschickt dabei, wenn er melkt, dann gibt die Kuh deutlich weniger Milch. Da kommt es auch vor, dass die Kuh ausschlägt, oder den Vater mit dem Schwanz im Gesicht trifft. Dann wird er häufig sehr zornig und drischt mit dem Schemel auf die Kuh ein; was der Bereitschaft der Kuh – Milch zu geben – keineswegs förderlich ist.

Die drei Buben sind mit ihrer Arbeit fertig, nun stehen sie erwartungsvoll an der Stallwand gelehnt und warten begierig darauf, dass die Mutter mit der Erzählung des Märchens beginnt:

„Es war einmal eine arme Holzfällerfamilie, die hatte 2 Kinder die Hänsel und Gretel hießen.

Sie hatten nicht genug für alle zu essen und als die Not zu groß wird überredet die Frau ihren Mann, die Kinder nach der Arbeit mitten im Wald zurückzulassen…“

Viertes Kapitel: Beim Heingan

Die Petroleumlampe, die über dem Küchentisch hängt, wirft ein rußig-diffuses Licht in den Raum. Über dem Tisch ist das Licht einigermaßen brauchbar, in den Ecken des Raumes ist es jedoch stockdunkel, zusätzlich projizieren die Schatten der um den Tisch sitzenden Kinder ein gespenstisches Bild an die umliegenden Wände.

Es ist ein Tag im Hochsommer 1961.

Gestern zeitig in der Früh war der Vater aufgestanden und mit den ersten Sonnenstrahlen mit seiner Sense auf die Pachtwiese Gras-mähen gegangen. Die Sense hatte er am Vortag frisch gedengelt und gewetzt, bis sie rasierklingenscharf war. Im Laufe des Vormittags war dann die Mutter mit den Kindern nachgekommen. Bei der zu verrichtenden Tätigkeit des „Heingan‘s“ waren alle Familienmitglieder im Einsatz.

Glücklicherweise war an diesem Tag die Sonne gnädig gewesen und hatte ihren Teil der Arbeit schnell und gründlich erledigt, indem sie vom Himmel strahlte, dass es eine Freude war.

Nachdem der Vater das Gras gemäht und in Bahnen einer Sensenschnittbreite abgelegt hatte, hatte die Mutter mit den Kindern das frische Gras zum Trocknen auf die gesamte Wiesenfläche verteilt.

Die 3 Buben im Alter von 8, 7 und 6 Jahren waren im „Heingan“ schon recht geschickt. Sie marschierten dabei jeder über einer Grasbahn und verteilten das Gras mit der Heugabel nach links und rechts gleichmäßig auf der Wiesenfläche.

Dabei versuchten sie mit der Mutter Schritt zu halten, was aber höchstens Otto, dem Ältesten, noch halbwegs gelang.

Die 11 Jahre alte Schwester Helen hatte in der Zwischenzeit die zwei Kleinsten, Burli (3 Jahre) und Mädi (4 Monate alt), zu betreuen. Sie hatten es sich auf einer alten Decke, die am Wiesenrand ausgelegt wurde, bequem gemacht. Dort hatten alle dann auch das mitgebrachte Mittagessen eingenommen. Am Nachmittag war das einseitig getrocknete Gras dann noch einmal gewendet worden.

Heute wird das so getrocknete Heu eingebracht, das als Winterfutter für die Kühe den ganzen, langen Winter über reichen muss. Wenn die Sonne nicht so kräftig scheint, dann muss das Gras auch 3 oder mehr Tage zum Trocknen liegen bleiben. Feuchtes Heu schimmelt bald und ist dann als Futtermittel nicht mehr zu gebrauchen.

Der große Leiterwagen, der eine Länge von ca. 5 Metern und eine Breite von ca. 2 Metern hat, wird vorbereitet.

Bei den Vorbesitzern war der Wagen von Ochsen gezogen worden, bei unserer Familie wird jetzt eine Kuh als Zugtier verwendet. Nachdem das „Drittel“ eingehängt und das Zuggeschirr vorbereitet ist, holt der Vater die dafür abgerichtete Kuh aus dem Stall und lässt sie frei. Das Tier ist sichtlich erfreut, der Enge des Stalls zu entkommen und tobt sich erst mal richtig aus. Nachdem sie einige Runden um das Haus gedreht hat, beruhigt sie sich und lässt sich problemlos einfangen. Vater legt ihr das Geschirr um und bringt sie zum Wagen. Dort wird ihr das „Stirnplattl“ angelegt, mit dem sie den Leiterwagen ziehen wird. Im Gegensatz zu Pferden ziehen Ochsen und Kühe ihre Last nicht mit der Schulter, sondern mit dem Kopf, genauer gesagt mit der Stirn. Dazu gibt es eine eigens dafür konstruierte, gepolsterte Schiene, die auf der Stirn der Kuh mittels Riemen an den Hörnern befestigt wird. Diese hat an den Enden Haken, in denen die Zugketten eingehängt werden.

Alle Holzrechen und Heugabeln werden auf dem Wagen verstaut, dazu noch eine Tasche mit einigen Flaschen Wasser und eine Decke. Dann steigt die Mutter mit ihren 6 Kindern selbst auf den Wagen.

Nun steht die Kuh neben der Deichsel (Lenkstange) des Leiterwagens, der Vater hängt die Zugketten und die Führungskette der Deichsel ein. Er nimmt den Zügel in die Hand und die Kuh setzt sich mit dem schweren Leiterwagen problemlos in Bewegung, während der Vater mit dem Zügel in der Hand nebenher marschiert.

An der Wiese angekommen, wird alles wieder abgeladen und die Arbeit verteilt. Der Vater hat die Aufgabe, die Kuh zu führen. Ein Job, den die Mutter zwar kann, aber ungern übernimmt, denn bei dieser Tätigkeit ist auch ab und zu ein richtiger Gewaltakt vonnöten, wenn die Kuh ihren eigenen Willen kundtut.

Otto und Luisi rechen das Heu zusammen und formen damit Bahnen, während Helen wieder auf Burli und Mädi aufpasst. Der Vater fährt neben den zusammengerechten Heubahnen mit dem Leiterwagen entlang, während die Mutter das Heu auf den Leiterwagen auflädt. Fritzi steht oben am Leiterwagen und verteilt das aufgeladene Heu, das er gleichzeitig mit seinem Gewicht verdichtet.

Nachdem der Wagen schon mehr als die Hälfte der Heumenge aufgenommen hat, machen alle eine Pause und trinken das mitgebrachte Wasser.

Es wird jetzt schwieriger den Wagen zu beladen, denn das aufgeschichtete Heu gerät in Gefahr, vom Wagen runterzurutschen.

Jetzt lassen Vater u. Mutter den Wagen stehen und helfen mit, das restliche Heu zu Haufen zu rechen. Die 3 Buben Otto, Luisi und Fritzi stehen jetzt oben am Wagen und schlichten das Heu, während Vater u. Mutter die Heuhaufen herantragen und aufladen. Nachdem alles Heu verladen ist, wird der mitgebrachte Heubaum (ein Rundholz ca. 550cm lang, 20cm dick) der Länge nach auf das Heu gelegt und mit Seilen auf den Leiterwagen niedergebunden. Die ganze Ladung hat jetzt eine Höhe von ca. 3 Metern, ist deutlich breiter als der Wagen und schwankt bei Bodenunebenheiten gewaltig. Die Buben bleiben oben auf der Heuladung sitzen und genießen die Fahrt in luftiger Höhe, während alle anderen den Rückweg zu Fuß antreten. Die Buben müssen allerdings aufpassen, um nicht von herunterhängenden Zweigen vom Wagen gerissen zu werden.

Zu Hause angekommen, wird erst die Kuh ausgespannt und versorgt, dann wird das vorbereitete Mittagessen aufgewärmt und zu Mittag gegessen.

Danach wird das eingebrachte Heu am Heuboden verladen. Der Vater und Otto werfen das Heu vom Wagen mit ihren Heugabeln durch eine Tür auf den Dachboden über dem Stall.

Luisi und Fritzi tragen das Heu von dieser Türöffnung nach hinten, wo sie es verstauen und verdichten.

Dieser Heuboden ist für Luisi ein Ort, an dem er sich gern zurückzieht.

Aber auch wenn ein Krankheitsfall in der Familie auftritt, ist der Heuboden so etwas wie eine Quarantäne- Station. Erst unlängst, als die größeren 4 Kinder Keuchhusten hatten, mussten sie mit dem Vater auf dem Heuboden wohnen. Die Mutter hatte erst kurze Zeit vorher ein Kind bekommen, das noch dazu ein Frühchen war und sie hatte Angst, dass dieses angesteckt werden könnte. Die Mutter blieb mit Mädi und Burli im Wohngebäude, alle anderen Kinder mussten mit dem Vater für 2 Wochen auf den Heuboden.

Für Vater war das bestimmt nicht lustig, die kranken Kinder zu versorgen.

Damals hat auch Luisi die Situation nicht so lustig gefunden.

Sonst aber mag er das Heu, den Geruch, das Gefühl des Alleinseins am Heuboden.

Wie oft hat er sich hierher zurückgezogen, wenn er traurig und unglücklich war. Hier war es immer warm, er konnte sich ins Heu kuscheln und weinen, ohne aufzufallen.

Überhaupt hatte er in letzter Zeit immer öfter das Gefühl, aufzufallen – anders zu sein als andere Kinder. Er konnte nicht wirklich sagen warum er anders sein könnte.

Vielleicht, weil er ein bisschen langsamer im Denken war als andere?

Vielleicht, weil er sich schwerer tat, etwas auswendig zu lernen?

Vielleicht, weil er ein bisschen ungeschickter als Gleichaltrige war?

Vielleicht, weil er anderen des Öfteren etwas sagen wollte, und plötzlich vor Nervosität nicht mehr wusste, was das eigentlich war?

Vielleicht, weil er sich nicht so gut wie andere auf etwas konzentrieren konnte?

Vielleicht, weil er sehr viel nachdachte und deshalb von der Umgebung als Träumer wahrgenommen wurde?

Es war jedenfalls so, dass Luisi oft traurig war und viel weinte.

Irgendwann kam der Moment, an dem er sich fragte, warum er eigentlich traurig war.

Und das war der Moment, an dem er erkannte, dass es viele Menschen auf dieser Erde gibt, die viel mehr Grund haben, traurig zu sein. Denen es viel schlechter geht, die mit ihrer Situation auch irgendwie zurechtkommen müssen.

Das war der Moment, an dem er auch erkannte, dass seine Traurigkeit reines Selbstmitleid war.

Selbstmitleidig wollte Luisi jedoch keinesfalls sein, darum beschloss er, in Zukunft mehr dafür zu tun, um das zu erreichen, was auch andere erreichen können. Dass er zeigen werde, dass er mit anderen sehr wohl mithalten könne.

Und er nahm sich vor, dass er immer wenn er traurig sein sollte, daran denken werde, dass die Ursache dieser Traurigkeit Selbstmitleid sei. Und dass er lieber die Menschen bemitleiden solle, denen es wirklich schlecht geht, bevor er sich selbst bemitleidet.

An einem Tag dieses Jahres passiert etwas, das anfangs gar nicht so dramatisch aussieht. Ein junges, ungestümes Kalb schlägt plötzlich unerwartet aus und trifft Fritzi mit der „Hinterhand“ im Bauch. Fritzi wird zu Boden geschleudert und bleibt liegen. Die Mutter trägt ihn ins Haus, legt ihn ins Bett und macht ihm einen kalten Wickel.

Am nächsten Tag ist er wieder auf den Beinen, doch von diesem Tag an reagiert er in der Bauchgegend auf Berührung sehr empfindlich.

Monate später bildet sich dort eine kleine Schwellung – ein „Wimmerl“.

Fritzi, der von Natur aus nicht sehr zugänglich ist, wird mehr und mehr zum Einzelgänger. Wegen seiner Mimosität wird er jetzt häufig „Mr. Wimmerl“ genannt, oft geht er in den Wald und kommt erst nach Stunden zurück.

Luisi, der neugierig ist und wissen will, was der Bruder im Wald macht, beginnt ihn zu beobachten. Dabei stellt er fest, dass Fritzi sich in den Wald zurückzieht, um zu meditieren. Er macht das, indem im Wechselschritt hüpft und dabei mit einem Stock auf den Waldboden schlägt. Er legt dabei eine Strecke von ca. 30m zurück, dann dreht er sich um und hüpft den Weg retour. Immer und immer wieder, die gleiche Strecke, stundenlang. Er wirkt dabei völlig abgehoben von der Wirklichkeit, was mag da wohl im Kopf dieses Kindes vorgehen?

Fritzi liest viel und interessiert sich besonders für Geschichte. Durch sein Interesse eignet er sich bald unglaubliches Wissen auf diesem Gebiet an.

Wegen seines Problems im Bauch wird er immer weniger für schwere Arbeiten herangezogen.

Als das „Wimmerl“ später beginnt größer zu werden, verschweigt er es.
Fritzi wird 1967 operiert, als das Geschwür bereits faustgroß ist.
Zu dem Zeitpunkt weiß Luisi nicht, dass sein Bruder Krebs hat.

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Fünftes Kapitel: Die Kriegsjahre

Die Petroleumlampe, die über dem Küchentisch hängt, wirft ein rußig-diffuses Licht in den Raum. Über dem Tisch ist das Licht einigermaßen brauchbar, in den Ecken des Raumes ist es jedoch stockdunkel, zusätzlich projizieren die Schatten der um den Tisch sitzenden Kinder ein gespenstisches Bild an die umliegenden Wände.

Es ist ein Samstagnachmittag im Frühjahr 1962. Die gesamte Familie befindet sich in der Wohnküche.

Im Herd brennt mit leisem Knistern ein Feuer welches nicht nur wärmt sondern auch durch den leichten Holzrauchgeruch eine wohlig-warme Atmosphäre schafft. Die Mutter sitzt an der fußbetriebenen Nähmaschine und ist mit dem Umnähen einer zu klein gewordenen Hose beschäftigt. Die große 12-jährige Schwester Helen hat am Tisch Platz genommen und ist in ein Buch vertieft. Ab und zu wirft sie einen Blick auf das Gitterbett in dem die 11 Monate alte Schwester Elisabeth – von allen nur Mädi genannt – schläft. Der jüngste Familienzuwachs ist das Nesthäkchen der Familie, war durch ihre Frühgeburt stark untergewichtig und musste einige Zeit im Brutkasten verbringen.

Es war sprichwörtlich auf des Messers Schneide gestanden, ob sie überhaupt überleben würde.

Die Mutter hatte sich anschließend große Vorwürfe gemacht, sie gab sich die Schuld an der Frühgeburt, denn sie hatte als Hochschwangere Wäsche gewaschen – im Winter, im eiskalten Bachwasser. Irgendwer hatte es tun müssen, sie als Hausfrau hatte sich dazu verpflichtet gefühlt.

Etwas abseits hat der 4-jährige Burli ein ruhiges Eck gefunden, wo er in Ruhe mit den Bauklötzen aus Holz spielen kann, die sie zu Weihnachten bekommen hatten.

Die 3 Buben Otto, Luisi und Fritzi balgen übermütig mit dem am Küchenboden liegenden Vater herum.

Die Mutter blickt von ihrer Arbeit auf und überfliegt diese – ihre Familie – mit einem prüfenden Blick.

Ja, die Familie ist recht zahlreich geworden. Inzwischen gibt es 8 Personen im Haushalt: die Eltern und 6 Kinder. Sie haben lediglich 2 Räume zum Wohnen: eine Wohnküche mit ca. 20 m² und ein Schlafzimmer mit ca. 22 m², für die große Familie viel zu wenig.

Die Kinder müssen zu zweit und zu dritt in einem Bett schlafen, das ist unzumutbar, vor allem da sie immer älter werden.

In der Forstverwaltung hatte man versprochen im kommenden Sommer ein Zimmer anzubauen. Und man werde von einer nahegelegenen Wiese eine dort befindliche Quelle nutzbar machen. Man wird das Wasser in einer neu zu errichtenden Brunnenstube auffangen und eine Wasserleitung bis zum Haus verlegen. Zwar nicht ins Wohnhaus, aber immerhin bis zur Waschküche.

Vergangenen Sommer war der Stromanschluss hergestellt worden. Was für eine Erleichterung für die Hausfrau. Nicht nur, dass man jetzt nur einen Schalter betätigen muss, um einen Raum zu beleuchten; vieles lässt sich mit dieser Energieform leichter betreiben, inzwischen hatten sie auch schon eine elektrische Wäscheschleuder – und ein Radio und damit waren sie nicht mehr so von der Umwelt abgeschnitten. Und die Mutter kann auch nachts im Licht der Glühlampe noch nähen, stopfen und stricken wenn es draußen schon lange dunkel ist.

Mit dem Strom hatten sie auch Nachbarn bekommen. Am Grund nebenan war ein Holzhaus errichtet worden, das von den Eigentümern am Wochenende benutzt wird.

Ja, schön langsam geht es aufwärts – denkt die Mutter hoffnungsfroh.

Heute hat der Papa ausgezeichnete Laune und lässt einiges mit sich anstellen. Am Wochenende war er in letzter Zeit immer öfter betrunken, dann war er ungenießbar, streitsüchtig und grob.

Aber heute nicht, heute lässt er es zu, dass die Buben gemeinsam versuchen ihn niederzuringen, mit vereinten Kräften danach trachten einen seiner Arme auf den Boden zu drücken. Es macht ihm sichtlich Spaß, seinen Söhnen seine geballte Kraft zu demonstrieren. Jedesmal wenn sie kurz davor zu sein glauben, seinen Arm auf dem Boden fixieren zu können, dann spannt er seinen muskulösen Oberkörper an und befreit sich von der Umklammerung der 9,8,u.7 Jahre alten Buben.

Otto, den ältesten, fasziniert das Spiel der Muskel beim Vater.

„Papa, zeig uns doch mal was du für starke Oberarmmuskel hast! Lass deinen Bizeps mal richtig für uns tanzen!“

Der Vater zieht bereitwillig sein Hemd aus und zeigt den staunenden Buben das Spiel seiner Muskeln. Fasziniert betrachten sie den von harter Arbeit gestählten Körper.

Plötzlich sieht Otto an Papas Oberarm eine große, runde Narbe.

„Was ist denn DAS Papa? Wie hast du dich denn hier verletzt?“

Der Vater wird sofort ernst „Das ist eine Kriegsverletzung“, sagt er kurz angebunden.

Doch das Interesse der Buben ist geweckt. „Bitte, bitte, erzähl uns wie das passiert ist!“, betteln die Buben, „und hast du auch zurückgeschossen? Hast du vielleicht sogar jemanden getötet?“

„Der Krieg ist alles andere als schön. Da passieren Dinge, die man in Friedenszeiten nicht für möglich hält. Man hat uns auch nicht gefragt, ob wir das tun wollen was wir taten. Wir hatten Befehle auszuführen, und niemand fragte, ob wir das für richtig hielten.

Ich hatte ein schweres Maschinengewehr zu bedienen, es war meine Aufgabe zu schießen, den Feind abzuwehren. Bei den mehreren Hunderttausend Schuss, die ich während meines Kriegseinsatzes abfeuerte, muss ich davon ausgehen, dass ich bestimmt für einige Dutzend Tote verantwortlich bin. Für mich ging es auch nie darum jemanden zu töten, sondern es ging für mich ausschließlich darum zu überleben. Es ging immer um die Frage: entweder er oder ich. Entweder erschieße ich den Feind, oder der Feind erschießt mich!“

Otto, der älteste der Buben, will alles genau wissen: „Wieso bist du überhaupt zum Militär gegangen, wenn du gar nicht schießen wolltest?“

Der Vater merkt, dass er um die Geschichte nicht herumkommt. Er erzählt nicht gern davon, weil er weiß, dass die Vergangenheit ihn belastet. Nun gibt er sich aber einen Ruck und beginnt zu erzählen:

„Als ich 1921 zur Welt kam, war eine schwierige Zeit. Der 1.Weltkrieg war eben erst vorbei, eine hohe Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut bestimmten das tägliche Leben. Das Land und die Menschen waren ausgeblutet, ein großer Teil der Bevölkerung verarmt. Auch meine Eltern waren arbeitslos und ausgesteuert worden, das heißt sie bekamen kein Arbeitslosengeld und keine Unterstützung vom Staat. Sie hatten schon 3 Kinder und so gaben sie mich im Alter von 3 Jahren, als ein weiteres Kind zur Welt kam, zu Verwandten nach Südtirol nahe Bozen.

Dort hatte ich einen Onkel – das war ein Bruder meiner Mama – der einen Bauernhof und somit auch ausreichend zu Essen hatte.

Ich wuchs dort auf und wurde schon als kleines Kind als Almhirte eingesetzt.

Die Geschichten aus der damaligen Zeit, muten heute unglaublich an. So war es dort üblich, nur 2x im Jahr Brot zu backen. Das Brot gab es in Scheiben – ähnlich dem heutigen Fladenbrot – es war steinhart und konnte mit dem Messer nicht geschnitten werden – es wurde gebrochen. Aus Milch wurde Käse gemacht,

Butter und Sterz ergänzten den Speiseplan. Zu Essen gab es ausschließlich Produkte aus der eigenen Landwirtschaft und immer zu wenig, sodass ich ständig Hunger hatte. Gegessen wurde aus einem einzigen Topf in der Mitte des Tisches, von dem sich jeder mit dem Löffel bediente.

Die ersten Schuhe bekam ich mit 7 Jahren, als ich zur Schule musste. Der Schulbesuch wurde allerdings nicht wichtig genommen, die Kühe auf der Alm, die ich zu beaufsichtigen hatte, waren wichtiger. Da ich selbst auch wenig Lust auf Schule hatte, die noch dazu weit weg war, lernte ich nie richtig Lesen u. Schreiben.

Wohl fühlte ich mich nur auf der Alm, wo die Tiere den Sommer über verbrachten. Als kleiner Bub, brach ich mir einmal den Fuß. Arzt wurde keiner konsultiert, eine einfache Holzlatte wurde als Schiene verwendet und mit einem Stück Stoff an das Bein gebunden. So humpelte ich wochenlang herum.

Eine behütete Kindheit hatte ich mit Sicherheit nicht, man ließ mich spüren, dass ich gnadenhalber durchgefüttert wurde. Als ich alt genug war, nahm ich die erste Gelegenheit wahr, um abzuhauen und zu meinen Eltern nach Purkersdorf zu kommen.

Das war 1937 und ich war 16. Ich verdingte mir unterwegs bei Bauern als Knecht den Lebensunterhalt und so dauerte es ein ganzes Jahr bis ich 1938 in Purkersdorf bei meinen Eltern ankam. Diese hatten selbst genug Probleme und waren über meine Ankunft alles andere als erfreut.

Inzwischen war Hitler in Österreich einmarschiert. Als dann Tschechien besetzt wurde und der Polenfeldzug begann, meldete ich mich mit 17 freiwillig zur Wehrmacht. Die Kameradschaft beim Militär faszinierte mich und ich hatte das Gefühl, dazuzugehören, gebraucht zu werden. Dort war ich jemand – akzeptiert und geachtet, erst beim Militär habe ich eine Persönlichkeit entwickelt.

In einem 3wöchigen Schnellkurs wurde ich ausgebildet.

Ich war in Russland bei der Infanterie an der vordersten Frontlinie. Gemeinsam mit 2 Kameraden gehörte ich einer bespannten Einheit an, wir hatten ein schweres Maschinengewehr zu bedienen und dieses incl. Munition am Vormarsch zu transportieren. Dazu standen uns ein Pferd und ein Einachswagen zur Verfügung.

Dieses Pferd – eine Haflingerstute die ich Liesl nannte – ist mir im Laufe der Zeit richtig ans Herz gewachsen.“

Die Kinder waren schon ungeduldig. Sie wollten endlich die Geschichte von der Verwundung hören. Es war wieder Otto, der seine Ungeduld nicht bremsen konnte:

„Aber wie ist es zu deiner Verwundung gekommen?“

„Eines Tages waren wir hinter einem Bahndamm in Stellung gegangen, gegenüber waren russische Panzer aufgefahren. Ich lag mit meinem Karabiner auf Sicherungsposten als ich sah, wie bei einem der Panzer der Panzerkommandant die Luke oben öffnete um besser ein Ziel auszumachen. Ich legte schnell an und drückte ab. Bald darauf ließ man von der Panzerbodenluke einen Toten rausfallen.

Am Tag darauf lag ich wieder an derselben Stelle auf Posten. Ich sah gegenüber eine Bewegung zwischen den angrenzenden Bäumen. Ich beugte mich etwas aus meinem Schützenloch um besser sehen zu können. Da machte es RATSCH und ich spürte einen Schlag am Oberarm, erst dann hörte ich den Knall des Schusses. Als ich das Blut fließen sah, realisierte ich, dass ich getroffen war, zu meinem Glück war es ein glatter Oberarmdurchschuss. Ich kam ins Lazarett, dort wurde mir der Wundkanal mit einem runden Stechwerkzeug – ähnlich einem alten Kartoffelschäler – gereinigt. Das anschließende Rehabilitationslager in Deutschland war wie ein Urlaub. Zum Abschluss gab’s noch 14 Tage Heimaturlaub.

Anschließend ging`s wieder an die russische Front.

Am schlimmsten sind die Bilder, die sich im Laufe der Zeit in meinem Kopf eingebrannt haben. Kameraden, die von einem Moment zum anderen das Leben verloren. Freunde, die schwerst verwundet wurden, denen Arme und Beine abgerissen wurden, denen Granatsplitter die Bauchdecke aufgerissen hatte und denen die Gedärme raushingen und die wussten, dass sie langsam verbluten würden. All das Elend der Verletzten zu sehen, das war am schrecklichsten. Ich hoffte immer, wenn ich schon sterben muss, dann sollte es schnell gehen.

Eines Tages war ich mit einem Spähtrupp unterwegs, insgesamt 10 Mann. Wir bewegten uns dabei vor der Frontlinie, sollten feindliche Truppenstärke u. Position ausfindig machen. Dabei übersahen wir einen gut versteckten russischen Panzer. Dieser war als Heuschober getarnt, wie sie auf den Feldern rumstanden. Er gab seine Tarnung erst auf, als wir direkt vor ihm standen, mit einem „stoj“ wurde die Luke aufgerissen und mit dem Bug-MG das Feuer eröffnet.

Mein Glück war, dass ich in der Kolonne ganz vorne war, durch den begrenzten Bewegungswinkel des eingebauten MG`s erreichte mich der Feuerstoß nicht mehr, nachdem ich mich sofort auf den Boden geworfen hatte. Vom hohen Gras getarnt robbte ich auf allen Vieren, bis ich außer Sichtweite war. Von dem 10-köpfigen Spähtrupp kamen nur 3 zur Einheit zurück. Als die Truppe am nächsten Tag vorrückte, fanden wir die plattgewalzten Leichen der Kameraden. Der Panzer war beim Wegfahren noch mehrmals über die leblosen Körper gerollt.

Mitgenommen hat mich auch die Erschießung von russischen Zivilisten. Manchmal wurden Exekutionskommandos gebildet um einheimische Saboteure zu erschießen, öfters befanden sich auch Frauen und Kinder darunter. Bei der Besetzung von russischen Dörfern gab es den Befehl, verbliebene Zivilisten zu erschießen um eine Gefährdung durch Sabotage u. Partisanentätigkeit zu vermeiden. Einige Kameraden hatten Spaß an der Jagd nach Zivilisten, ich aber hab sie laufen lassen.

Meine Kameraden bekamen Feldpostbriefe und kleine Päckchen mit Lebensmitteln von ihren Familien zugeschickt. Ich bekam nie etwas von meiner Familie, das schmerzte mich sehr. Ich hab allerdings auch nicht geschrieben, denn ich konnte nicht schreiben. Meinen Sold jedoch hab ich nach Hause geschickt, die ganzen Kriegsjahre hindurch. Als ich nach dem Krieg aus der Gefangenschaft nach Hause wollte, hatte man keinen Platz für mich – in Wirklichkeit war ich war nie Teil dieser Familie.“

„Papa, bitte erzähl weiter vom Krieg, wir wollen wissen was du noch alles erlebt hast!“

„Irgendwann ist der Vormarsch zum Erliegen gekommen, wir hatten uns in Erdbunkern eingegraben.

In diesen Bunkern befanden sich je 5 Mann. Einer musste mittags immer das Essen von der Feldküche holen, dazu wechselte man sich ab. Eines Tages, als ich an der Reihe war und ich eben in der Feldküche beim Essen ausfassen war, gab es in meinem Bunker einen feindlichen Volltreffer, als ich zurückkam waren alle Kameraden tot.“

Wieder war es Otto, der alles ganz genau wissen will: „Wieso kann es sein, dass der Bunker keinen Schutz bot. War er nicht tief genug gegraben worden?“

„Weißt du Otto, im Krieg gibt es immer wieder neue Waffensysteme. Die Artillerie der Russen bestand in erster Linie aus der bekannt-berüchtigten „Stalinorgel“. Das ist ein Geschütz, das eine Vielzahl von Abschüssen abgeben kann, ohne nachladen zu müssen. Die abgefeuerten Geschoße sind Explosivmunition und haben beim Aufschlagpunkt eine Sprengwirkung. Diese Wirkung lässt sich mit einem Erdbunker entsprechender Tiefe neutralisieren, weil die Flugrichtung der Geschoße waagrecht ist. Das entstehende typische Geräusch beim Abfeuern ist …TSCHIN…TSCHIN…TSCHIN…TSCHIN…, dabei trifft das Geschoß auf, bevor man den Knall des Abschusses hört.

Der Treffer in unserem Bunker stammte allerdings von einem Granatwerfer, dessen Flugrichtung einer Hyperbel gleicht, das heißt, das Geschoß wird eher senkrecht abgefeuert und kommt auch fast senkrecht, das heißt von oben an – und Erdbunker sind nun mal oben offen. Bei diesem Geschoß ist die Fluggeschwindigkeit deutlich langsamer ist als der Schall, somit hört man den Abschuss und deutlich später erst den Einschlag.- Das Geräusch dieses Geschützes ist: RATSCH-BUMM…

RATSCH beim Abschuss, BUMM bei der Aufschlagsexplosion. Es war jedesmal eine Erleichterung das BUMM nach einem RATSCH noch zu hören, denn dann wusste man, es hat anderswo eingeschlagen. Diese 2-4 Sekunden nach dem RATSCH waren immer mit der Frage verbunden: erwischt es jetzt dich? Diese Geräusche verfolgen mich bis heute im Schlaf.

Ein andermal wurde ein Stoßtrupp zusammengestellt der die Aufgabe hatte, aus den feindlichen Linien einen „Informanten“ rauszuholen, um ihn über die feindlichen Truppen zu „befragen“.

Ich war einer von 3 „Freiwilligen“. Nachts, im Schutz der Dunkelheit, robbten wir uns an die russischen Stellungen heran. Diese waren Erdbunker, die mit einem Graben in Zickzackform – zum Schutz gegen Splitter – verbunden waren.

Wir sprangen in den Graben, ich voran. Einem Posten, der dort Wache schob, rammte ich mein Bajonett in den Rücken, mit einem leisen Röcheln sank der Mann zu Boden. Rasch suchten wir den nächstgelegenen Bunker auf. Vier der fünf dort anwesenden Soldaten wurden sofort von uns erschossen, sie waren so überrascht, dass sie keine Zeit zum Reagieren hatten. Der fünfte – ranghöchste Soldat war zufällig ein Offizier, ein unglaublicher Glücksfall, denn die befinden sich selten an vorderster Frontlinie.

Mit ein paar brutalen Schlägen wurde der Gefangene schnell gefügig gemacht und er sich sofort seiner lebensbedrohlichen Situation bewusst. Wir packten den Mann, warfen ihn aus dem Graben und verließen schnell mit ihm im Schlepptau, robbend das Gelände.

  Durch unsere abgegebenen Schüsse war  der Überfall entdeckt und gleich das Feuer eröffnet worden. Leuchtraketen wurden abgefeuert, das ganze Gelände taghell beleuchtet. Schwere Geschütze feuerten was das Rohr hielt, man wollte unbedingt verhindern, dass wir mit dem lebenden Gefangenen entkamen. Man entdeckte uns zum Glück nicht, und es war mehr Zufall, dass man uns trotz dichtem Beschuss auch nicht traf. Zu allem Überfluss hatte der arme Mann aus Angst in die Hose gemacht, wir musste uns dieser entledigen.

Die Deutschen waren auf das Feuer vorbereitet und unsere Geschütze feuerten aus allen Rohren zurück. Jedenfalls kehrten wir wie durch ein Wunder unversehrt zu den deutschen Linien zurück.

Als Belohnung bekam ich das „Eiserne Kreuz“ verliehen und 2 Wochen Heimaturlaub.“

Luisi will es genau wissen: „Was geschah mit dem Gefangenen eigentlich, und was wäre wenn er nichts verraten hätte?“

Der Vater sieht den Sohn tief in die Augen: „Glaub mir, der hat geredet. Der redete wie ein Wasserfall, denn unsere Leute von der SS konnten sehr überzeugend sein!

Zurück an die Front ging’s dann mit dem Flugzeug – durch Absprung mittels Fallschirm.

Irgendwann im Winter 1942 wurden wir eingekesselt und zwar im Kessel Demjanks. Wir froren schrecklich, hatten nichts zu Essen und waren vollkommen verlaust. Als die Umkesselung gesprengt werden konnte, kesselten wir unsererseits Teile der russischen Truppen ein.

Da gab es ein Waldstück, in dem an die 2000 Russen von der Versorgung abgeschnitten wurden. Nach Ende des Winters, als dann das Waldstück erobert wurde, war kaum jemand mehr am Leben. Und die, die überlebten, hatten sich vom Fleisch der verstorbenen Kameraden ernährt.

Aber auch unsere Versorgungslage wurde immer miserabler. Es gab kaum mehr ausreichenden Nachschub an Ausrüstung, selbst die Verpflegung war mehr als mangelhaft. Immer wieder wurden unsere Nachschublinien unterbrochen. Wenn dann wieder Nachschub durchkam, waren oft die lächerlichsten Dinge dabei, wie Damenmäntel oder so rosa Muff, die Damen der Gesellschaft statt Handschuhe tragen.

Aber ich hab mich immer mit dem Notwendigsten eindecken können, und wenn ich die Sachen den gefallenen Kameraden auszog, oder den toten Russen. Gleichzeitig musste ich auch mein Pferd versorgen, im Winter war es sehr schwer für die arme Liesl ausreichend viel Heu zu finden.

Die Kälte und der viele Schnee machte uns zu schaffen. Für die Russen war das nichts Ungewöhnliches und sie waren uns dadurch überlegen. Sie robbten oft unter dem Schnee bis an unsere Stellungen heran und starteten dann einen Überraschungsangriff.

Manchmal wurden sie auch von ihren Vorgesetzten wie Vieh direkt in das Feuer unserer Maschinengewehre getrieben und starben reihenweise vor unseren Stellungen. Aber je mehr starben, umso mehr kamen nach – sie kamen wie die Ameisen, einzeln nicht wirklich gefährlich, in dieser unglaublichen Masse an Menschenmaterial aber nicht zu besiegen.

Sie lagen dann draußen rum, zu den bizarrsten Figuren gefroren – diese Bilder des Grauens kann ich bis heute nicht aus meinem Gedächtnis löschen.

Im  Laufe des Krieges hatte ich alle meine Kameraden verloren, sie waren einer nach dem anderen gefallen. Was von meiner Einheit übrigblieb, war ein versprengter, zusammengewürfelter Haufen von ganz Jungen oder ganz Alten.

Gegen Ende des Krieges wurden wir wieder eingekesselt, wir versuchten einen Ausbruch, dieser misslang. Bei den darauffolgenden Wirren, der ein Rückzug sein sollte, ging’s dann drunter und drüber.

Ich war Obergefreiter und für mein Pferdegespann zuständig. Als der Nachschub über einen längeren Zeitraum vollständig ausblieb, ging den motorisierten Einheiten der Treibstoff aus und sie mussten ihre Fahrzeuge stehen lassen.

Reihenweise standen an der Rückzugslinie Militärfahrzeuge, Transporter, Panzer und Geländefahrzeuge, denen der Sprit ausgegangen war.

Als ich so – mit meiner Liesl am Zügel – marschier, seh‘ ich mitten am Weg ein Geländefahrzeug stehen. Davor steht ein deutscher Offizier und sieht mich mit meinem Gespann auf sich zukommen.

Ich ahnte instinktiv, dass sich etwas Unangenehmes tun würde, darum drehte ich den geschulterten Karabiner schon mal vorsorglich von der üblicherweise senkrechten Rückenlage in eine nahezu waagrechte Bauchlage.

Als ich beim wartenden Offizier vorbeimarschieren wollte, salutierte dieser kurz auf und schnarrte mit befehlsgewohnter Stimme: „Soldat, ich beschlagnahme hiermit dieses Pferdegespann. Ich benötige es für den Weitertransport wichtiger Gegenstände!“

„Wieso kann dir dieser Mann einfach dein Pferd wegnehmen?“, fragt Otto sichtlich gefesselt von der Geschichte.

„Eigentlich war es ja nicht mein Pferd. Es war Heereseigentum, ich hatte nur die Betreuung übernommen. Aber es war das einzig Wertvolle, das mir geblieben war. Ich hatte zu dem tauben, alten Gaul eine innerliche Beziehung aufgebaut. Und ich hatte eine Wahnsinns-Wut im Bauch auf diese rücksichtslosen, sadistischen Vorgesetzten und ihre unsinnigen Befehle, die uns den Tod brachten. In dieser Situation fühlte ich mich nur meiner Liesl verpflichtet – sonst niemandem!

Ich war fest entschlossen, mein Pferd nicht aufzugeben: „Mein aktueller Befehl widerspricht Ihrem Wunsch! Haben Sie einen schriftlichen Befehl des Truppenkommandanten, dem ich Folge leisten muss?“

Das Gesicht des Mannes verzog sich zur Grimasse. „Ich bestehe darauf, dass Sie mir sofort das Gespann aushändigen, ansonsten werde ich Sie wegen Befehlsverweigerung vor ein Kriegsgericht stellen!“

Inzwischen waren auch andere Soldaten stehengeblieben und beobachteten das Geschehen. Der Offizier erkannte, dass er keine Möglichkeit mehr hatte, nachzugeben, er hätte sich vor den Soldaten lächerlich gemacht.

Ich war brenzlige Situationen gewohnt, der Krieg hatte mich abgestumpft und jede Art von Mitleid in mir war so gut wie tot. Der Erhaltung meines Lebens hatte ich alles unterzuordnen gelernt. „ Den Teufel werde ich tun, du bekommst mein Gespann nicht!“, meine Antwort ließ dem Offizier praktisch keine Wahl.

Ich sah, wie der Offizier langsam die Lederschleife des Pistolenhalfters löste, um die Waffe ziehen zu können. Ich aber hatte meinen Karabiner schon schussbereit wie zufällig auf ihn gerichtet, mit einem leisen Klick legte ich den Sicherungshebel um. Wild vor Zorn riss der Offizier seine Waffe aus dem Halfter: „ Ich sagte sofort! Überlassen Sie mir sofort das Gespann, sonst ….

Mein Schuss traf ihn mitten auf die Stirn unterhalb des Helmrandes. Sein Kopf wurde durch den Kugeleinschlag wie von einer unsichtbaren Faust nach hinten gerissen. Sein Blick, der kurz zuvor noch wilden Zorn ausgestrahlt hatte, schien das Unfassbare seines letzten Atemzuges widerzuspiegeln.

Er war tot, bevor er noch am Boden lag.

Rundherum standen die Zeugen dieser unglaublichen Begebenheit.

Normalerweise wäre ich sofort standrechtlich hingerichtet worden, in diesen Rückzugswirren dachte aber jeder nur noch an sich. Gleichzeitig hegten alle einen Groll gegen die oberen Reihen der Befehlskette und hatten mehr als Genugtuung bei diesem Geschehen empfunden. Gemeinsam legten wir den Toten auf sein steckengebliebenes Fahrzeug, das gleichsam zum Symbol seines zu Ende gegangenen Lebens wurde.

Drei Tage später war Endstation. Es gab keinen Ausweg mehr, rundherum hatten die Russen einen Gürtel gebildet, den sie immer enger zusammenzogen.

Ich versteckte mich unter einem Heuschober und schlief ein. Als ich erwachte, drangen russische Stimmen an mein Ohr, dann wieder deutsche. Schnell entfernte ich alle Abzeichen und Medaillen, die ich erhalten hatte und kletterte mit erhobenen Händen aus meinem Versteck. Damit begann meine russische Gefangenschaft aus der ich erst 1947 zurückkehren sollte.“

„Was geschah eigentlich mit deinem Pferd, der Liesl?“ will Luisi unbedingt noch wissen.

„Das weiß ich leider nicht, den Gaul haben sich aber sicher die Russen genommen. Ich hab sie freigelassen, kurz bevor ich mich versteckte und hab sie nie wieder gesehen.“

„Und wie war es in der Gefangenschaft?“, fragt der kleine Fritzi neugierig.

„Das war so schrecklich, darüber will ich gar nicht reden. Täglich starben viele Gefangene an Unterernährung, Ruhr und Typhus. Es gab hauptsächlich Wassersuppe und ein Stück hartes Brot, manchmal gar nichts. Und wir mussten schwere Arbeit in einem Kohlebergwerk verrichten. Von den vielen tausend Gefangenen haben lediglich ein paar hundert überlebt. Da sind Dinge vorgefallen, unfassbar und unmenschlich… dem Vater versagt die Stimme. Er steht auf und geht hinaus an die frische, kalte Luft. Die Kinder sollen nicht sehen, dass er bitterlich zu weinen begonnen hatte – und er nichts dagegen tun kann. Die Vergangenheit war wieder da, frisch und schmerzhaft!

Luisi hatte aufmerksam zugehört.

Später waren die Kriegserlebnisse seines Vaters viele Jahre lang Mittelpunkt seiner Gedanken. Immer wieder versetzte er sich in die Situationen des Vaters während der Kriegsjahre, hat seine Ängste, seine Wut und sein Entsetzen gedanklich durchlebt.

Er hat sich geistig an seines Vaters Stelle unter schwerem Artillerie-Beschuss befunden, hat die vielen Toten und verwundeten Kameraden und das viele Blut gesehen, hat die Hoffnungslosigkeit der tödlich Verletzten und ihre Erkenntnis der Sinnlosigkeit ihres Opfertodes hautnah durchlebt.

Er hat sich als ausgelieferter, hungernder Gefangener im Kohlebergwerk und als im Stich gelassener Sohn einer lieblosen Mutter gefühlt.

Irgendwann sind dann die Bilder der toten Russen in seinem Kopf hängengeblieben. Jede einzelne dieser „Kreaturen“ mit einer Geschichte, einer Familie, einem Bewusstsein behaftet.

Viele Jahre später hat dann das Leid der toten russischen Soldaten und das Leid ihrer Familien eine Erkenntnis bei Luisi ausgelöst:

Vater war im Unrecht – und er hätte es erkennen müssen!

Niemand hat das Recht in ein fremdes Land mit Waffengewalt einzudringen!

Niemand muss und darf den Befehl eines Vorgesetzten befolgen, der darauf abzielt, Menschen anderer Nation, Rasse, Religionszugehörigkeit oder Minderheit nur wegen ihrer Herkunft oder ihres Glaubens zu schikanieren oder zu töten.

Und niemand sollte sich von populistischer Propaganda in die Irre führen lassen!

Irgendwie war der Vater ein Opfer des Krieges geworden, ein schneller Tod durch eine feindliche Kugel war ihm nicht gegönnt gewesen.

Stattdessen war er zum Überleben verurteilt, zerbrochen vom Krieg und unfähig mit den Kriegserlebnissen fertigzuwerden.

Der Glaube an die Unfehlbarkeit der Obrigkeit war ihm abhanden gekommen, damit aber auch die Fähigkeit, sich jemanden unterzuordnen. Nach seinem Verständnis gab es für ihn nur noch seine eigene Befindlichkeit.

Die Zeit heilt viel, bei ihm hat sie zur Heilung nicht gereicht. Um seine Kriegserlebnisse zu verdrängen, ist er mehr und mehr der Macht des Alkohols verfallen.

Der Vater hat sein Unrecht Zeit seines Lebens nicht eingesehen; doch hätte er seine Schuld während des Krieges erkannt, dann hätte er – sehr wahrscheinlich – nicht überlebt!

Im Laufe des Sommers wird die Mutter immer wieder von den 3 Buben genötigt, mehr von den Familienverhältnissen des Vaters und von den Kriegsereignissen zu erzählen. Otto, Luisi und Fritzi möchten möglichst viel von der Situation des Krieges und von den Umständen die dazu führten, wissen.

Also beginnt die Mutter zu erzählen: „Euer Papa hatte zwei Schwestern, welche älter als er waren, aber auch einen Bruder. Dieser war um 2 Jahre jünger als Papa und war das Nesthäkchen der Familie. Wegen der wirtschaftlichen Not wurde euer Vater nach Südtirol zu – für ihn – fremde Menschen abgeschoben. Soviel ich weiß, hatte ihn die Mutter dort in all den Jahren nur ein einziges Mal besucht.

Gleichzeitig aber wurde der kleine Bruder zu Hause von Mutter und Vater umhegt und verhätschelt.

Euer Papa hatte ihn nicht wirklich gekannt, er muss jedoch wahnsinnig eifersüchtig auf ihn gewesen sein.

Wenn heute die Rede auf ihn kommt, spricht er immer sehr geringschätzig von ihm. Er begründet es damit, dass dieser Bruder bei Kriegsbeginn einfach nicht eingerückt war. Er sei feige und verweichlicht gewesen. Er hätte sein Vaterland verraten, weil er seiner Verteidigungspflicht nicht nachgekommen sei.

Dieser Bruder war beim Stellungstermin nicht eingerückt und von der Militärpolizei von zu Hause abgeholt und wegen Desertation vor ein Militärgericht gestellt worden. Dieses verurteilte ihn zum Tod, anschließend wurde er begnadigt und in einem „Bewährungsbataillon“ zum Minenräumdienst abkommandiert. Dort wurden die Soldaten als menschliche Minensuchgeräte eingesetzt, die Überlebensrate war im Durchschnitt nur einige Monate.

Euer Onkel starb bald darauf auf einem Minenfeld; ich hab keine Ahnung wann und wo.“

Ganz gebannt hören die Buben zu. Sie können es nicht fassen, dass sie einen Onkel durch eine solche Grausamkeit verloren haben.

„Wie kann man mit Menschen so umgehen? Dieser Onkel hat doch niemandem etwas getan“, meint Luisi fassungslos.

„Das war das politische System damals“, erörtert die Mutter, „jeder der das System ablehnte oder kritisierte, musste damit rechnen, verhaftet zu werden. Und es gab genug Leute, die sich Vorteile davon versprachen, wenn sie andere verrieten. Deshalb war jeder gut beraten, seine Meinung für sich zu behalten. Schon vor Kriegsbeginn, vor allem aber während des Krieges hat man Menschen mit jüdischer Abstammung in Konzentrationslager gesperrt, die meisten davon kamen darin um.

Im Krieg gab es aber auch Menschen die sich dem System aktiv verweigerten.

Die Bibelforscher zum Beispiel – heute Zeugen Jehovas – verweigerten sowohl den Treue-Eid auf Hitler, als auch den Dienst mit der Waffe. Schon vor Kriegsbeginn wurden nahezu alle bekennenden Zeugen Jehovas als staatsfeindlich betrachtet und in „Schutzhaft“ genommen. Es wurde schon früh damit begonnen ihnen Arbeitsstellen, Häuser, Fahrzeuge oder Betriebsgenehmigungen zu entziehen.

Renten, Pensionen, Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe wurden ebenfalls verwehrt.

Müttern wurde das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen.

Die ersten Kriegsjahre 1939 und 1940 waren im KZ durch eine weitere Steigerung der Misshandlungen der Zeugen Jehovas geprägt. Mehrfach suchten sich SS-Führer einzelne Zeugen Jehovas heraus, um an ihnen eine Demonstration zu vollführen. Ziel war das Abschwören vom Glauben. Dieses Kräftemessen endete in der Regel mit dem Tod des Bibelforschers.

Dabei waren die Zeugen Jehovas die einzige Gruppe im KZ, die jederzeit durch das Leisten des Fahneneides dieses hätte verlassen können.

Sie taten es nicht, weil der Geist die Macht über ihren Körper übernommen hatte. Es gab keine Repressalien, die geeignet waren, sie vom Glauben abschwören zu lassen!

Jeder Außenstehende hat damals einen Zeugen Jehovas für geisteskrank gehalten, wenn er – seiner geistigen Haltung wegen – die ganze Familie in Unglück und Tod stürzte.“

Die Kriegs-Erzählung des Vaters hatte in diesem Jahr für Luisi allerdings noch eine Überraschung parat. Denn irgendwann erzählt die Mutter, dass der im Krieg gefallene Bruder des Vaters Alois hieß.

Das hat ihn lange Zeit beschäftigt und auch gekränkt, weil der Vater ihn nach seinem Hassobjekt benannte.

Wie konnte ihm Papa den Namen jenes Menschen geben, dem er die Schuld dafür gab, dass er ohne Mutter aufwachsen musste?

Oder war es einfach ein Zeichen der Ehrerbietung an den toten Bruder?

Sechstes Kapitel: Die Zuckertante

Die Petroleumlampe, die über dem Küchentisch hängt, wirft ein rußig-diffuses Licht in den Raum. Über dem Tisch ist das Licht einigermaßen brauchbar, in den Ecken des Raumes ist es jedoch stockdunkel, zusätzlich projizieren die Schatten der um den Tisch sitzenden Kinder ein gespenstisches Bild an die umliegenden Wände.

Es ist Anfang Dezember des Jahres 1963. Das Blockhaus der Familie ist tief  verschneit, nur der Platz zwischen Stall und Wohngebäude ist freigeschaufelt worden. Der Weg zur Straße ist ein schmaler Gang an dem sich links und rechts mindestens 70 cm Schnee türmen.

Am Wohnhaus ist im vergangenen Sommer ein Zimmer angebaut und zur Nutzung des Dachbodens eine außenliegende Holztreppe errichtet worden.

Auf der Stirnseite des Dachbodens  wurden für Otto, Luisi und Fritzi Betten aufgestellt, Luisis Bett steht seitlich unter dem kleinen Fenster an der Giebelwand. Endlich hat jeder ein Bett für sich allein.

Helen hatte unten das neu angebaute Zimmer bekommen.

Die Stallarbeit ist bereits erledigt und die Kinder bereiten sich aufs Schlafengehen vor.

Im Sommer ist es im Dachboden tagsüber brütendheiß, nachts sind dann die Temperaturen angenehm.

Doch jetzt ist Winter. Um dem Frost im Bett entgegenzuwirken, nehmen die Buben im Backrohr aufgeheizte Mauerziegel mit, die wegen der heißen Oberflächentemperatur in Tücher gewickelt werden. Da der Dachboden unbeheizt ist, ist es dort im Winter bitterkalt. Wenn es  schneit, weht der Wind den Schnee durch die Fugen der Dachziegel in den Raum und die Kinder müssen vorm Schlafengehen erst den Schnee von der Bettdecke entfernen.

Die Ziegel werden ins Bett gelegt und die Kinder schlüpfen voll bekleidet unter die Bettdecke.

Luisi zieht sich noch eine Zipfelmütze über, denn er bekommt leicht Probleme mit den Ohren. Zusätzlich stülpt er sich noch die Bettdecke über den Kopf und hofft, dass es bald warm wird im Bett. Glücklicherweise haben sie ein wirklich warmes Bettzeug.

Gemeinsam hatten sie die Tuchenten mit Federn der Hausgänse gefüllt und die Mutter hatte  dabei mit dem Füllmaterial nicht gespart. Mehrere Jahre hindurch hatten sie die Gänse gerupft und abends im Kreise der Familie und eines befreundeten Ehepaares die Federn geschlissen. Eine extrem mühevolle Kleinarbeit, bei der  der Federkiel vom Pflaum getrennt wird. Luisi hatte diese Arbeit gehasst, denn nicht nur, dass diese Tätigkeit wirklich mühsam war, hat sich der leichte Flaum der Federn schon beim geringsten Luftzug im Raum verteilt.

Jetzt ist er jedoch froh, im warmen Federkleid der Gänse schlafen zu können.

 Am nächsten Morgen möchte Luisi nicht aus dem warmen Bett, er muss sich erst gedanklich an den kalten Dachboden gewöhnen, der ihn umgibt, sobald er das Bett verlässt. Die Mutter muss ihn zweimal rufen, bevor er wie üblich, viel zu spät vom Dachboden herunterkommt. Er bewundert seinen 10 jährigen Bruder Otto, der immer sofort aufstehen kann.

Als er in die Wohnküche kommt, machen sich die anderen Geschwister schon zum Abmarsch in die Schule bereit.

Luisi weiß, dass sie nicht auf ihn warten können. Er wird wieder hinterherlaufen müssen.

Schnell wäscht er sich den Schlaf aus dem Gesicht, schlüpft in seine Schulkleidung, steckt das von der Mutter vorbereitete Jausenbrot in die Schultasche und macht sich laufend auf dem Weg, während er ab und zu vom Frühstücksbrot abbeißt.

 Einige Monate später:

Die Schule ist aus. Luisi geht in die 4.Klasse Volksschule, nächstes Jahr wird er in die Hauptschule kommen. Seine Lehrerin hatte gemeint, wenn er sich etwas mehr anstrengt, könne er es in den A-Zug schaffen.

 Am Nachhauseweg lässt er sich Zeit. Er hat mehrere Möglichkeiten, heute wählt er die Strecke, die beim Lebensmittelladen vorbeiführt.

Der Lebensmittelhändler heißt Honecker und er beliefert 1x in der Woche die Familie. Die Mutter hatte Luisi  einen Zettel mitgegeben, auf dem sie die benötigten Lebensmittel notiert hatte, den muss er nun beim Honecker abgeben.

Nun steht der Bub vor dem Laden, der für ihn das Paradies bedeutet und starrt hinein auf die vielen Dinge die für ihn unerreichbar sind. In der Mitte des Raumes steht das Verkaufspult, dahinter der Ladenbesitzer und 2 Verkäuferinnen. Vorne im Verkaufsraum befinden sich 3 Kunden, die auf die Bedienung warten. An der Wand hängen Verkaufsgegenstände wie Kleidung, Haushaltsartikel, Werkzeug. Im Pult befindet sich eine Vitrine mit köstlichen Wurst- und Käsesorten. Obendrauf stehen Glasbehälter mit den verschiedensten harten Zuckerln, Kaugummi und Stollwerk. Links gibt es eine Stellage mit Schnitten und Keksen, dahinter eine Ablage mit frischem Brot und Gebäck. Und rechts am Pult steht die handbetriebene Wurstschneidemaschine.

Hin und wieder gönnt sich Luisi hier eine Wurstsemmel mit 2 Blatt Extrawurst um     

1 Schilling, Geld dass er sonntags im Gasthaus fürs Kegelaufstellen bekommt.

Der Herr Honecker sieht den Buben vor dem Geschäft stehen und ruft ihm zu: „Komm ruhig rein, du musst nicht draußen warten, ich weiß, dass du nur die Bestellliste abgeben willst!“

Er nimmt dem Buben die Liste ab, greift in eine der Glasboxen und drückt ihm ein Zuckerl in die Hand: „ Das ist für den Heimweg!“

Am Nachhauseweg hat das Kind immer noch die vielen Köstlichkeiten vor Augen. Er weiß schon seit Längerem: wenn er einmal groß ist, dann wird er auch Honecker werden!

 Heute ist Samstag, heute kommt die Zuckerltante. Eine Person deren Motivation Luisi nicht versteht, die aber für ihn und seine Geschwister sehr wichtig geworden ist.

Die Straße, die am Haus der Familie vorbeiführt, endet weit hinten in der Baunzen in einer neu gebauten Siedlung. Dort stehen einige Wochenendhäuser, auch eine  Wiener Friseurin hat dort eines. Sie fährt jeden Samstag ins Wochenende und dabei am Haus der Familie vorbei.

Irgendwann sind ihr dort die vielen, offensichtlich armen Kinder aufgefallen. Sie hat angehalten und hat einem der Kinder eine Tafel Schokolade gegeben, die sie zufällig dabeihatte. Als sie sah, wie die Kinder diese Schokolade untereinander aufteilten und mit welchem Genuss sie diese verzehrten, hat sie ab diesem Zeitpunkt, wenn sie ins Wochenende ging, extra für die Kinder eingekauft: Zuckerl, Schokolade, Kuchen manchmal auch ein Micki-Mausheft.

Das Geräusch des Motors des Wagens der Zuckerltante ist den Kindern inzwischen so vertraut, dass sie schon lange bevor diese die Hupe am Auto betätigt, wissen, dass ihre gute Fee im Anmarsch ist.

Siebentes Kapitel: Die Zuckertante

Otto und Fritzi haben ein besonderes Interesse an dem Sozialverhalten der Hühner entwickelt. Sie beobachten stundenlang die Hühner auf der Wiese, im Wald oder im Hühnerstall und registrieren genau, wie sie untereinander kommunizieren.

Der Hahn zum Beispiel, ist der unumschränkte Herr unter den Hühnern, er allein bestimmt über die Richtung des Weges. Er behält sich auch vor, den anderen Leckereien wegzunehmen. Und wenn junge Hähne dabei sind, dann müssen sie ihm großräumig ausweichen, sonst fließt Blut. Überhaupt ist so ein Hahn nicht ungefährlich, der kann mitunter einen erwachsenen Menschen zu Boden werfen.

Die Hennen untereinander haben eine genaue Rangordnung, die sie sich im Laufe ihres Lebens erkämpfen müssen. Und diese Rangordnung wird strikt befolgt.

Manchmal fängt Otto ein Huhn ein, von dem er weiß, dass es eine untergeordnete Rangordnung hat. Er nimmt dann das Tier am Hals und stößt mit dem Kopf gegen ein anderes Tier mit höherer Rangordnung. Das empfindet dieses Tier als Verstoß gegen ihre Gesellschaftshierarchie und stellt sich sofort dem Kampf.

  Besonders interessant sind Hühner die brüten, bzw. nach dem Schlüpfen der Küken. Ihr Verhalten ändert sich völlig, dann nehmen sie innerhalb der Hühnergemeinschaft eine Sonderstellung ein. Ihre Rangordnung hat dann keine Bedeutung mehr, sie bewegen sich zudem auch außerhalb der Hühnerschar. Und auch für den Hahn ist eine Gluckhenne absolutes Tabu.

Hühner, die Streit suchen, bzw. Rangordnungskämpfe austragen wollen, stellen zum Zeichen ihrer Aggression ihre Halsfedern auf. Gleichzeitig senken sie ihre Flügelspitzen so weit ab, dass diese fast am Boden streifen. Nimmt das gegnerische Huhn den Kampf an, so tut sie das ebenfalls und sie bekämpfen sich solange bis eine der beiden klein beigibt, also ihren „dicken Hals“ wieder einzieht. Mit dem Ergebnis des Kampfes ist eine neue Rangordnung hergestellt.

Bei Gluckhennen ist dieser „dicke Hals“ eine Dauerposition, zudem stellen sie nicht nur die Halsfedern auf, die Federn des ganzen Körpers werden aufgestellt, somit wirken sie deutlich größer und bedrohlicher. Gleichzeitig geben sie ein ständiges Glucken von sich, das ihren Kücken signalisiert wo sich ihre Mutter befindet, auch wenn sie sie gerade nicht sehen.

Richtig gefährlich können diese Gluckhennen werden, wenn sie mit ihren Jungen unterwegs sind. Wenn sie für ihre Jungen Gefahr zu erkennen glauben, dann greifen sie an, egal wie übermächtig der Gegner ist. Und alle Tiere respektieren das und weichen großräumig aus, selbst Hunde, Ziegen, Schafe und Rinder.

Diesmal sieht auch Luisi gemeinsam mit seinen Brüdern den Hühnern zu.

„Die armen Tiere“, denkt er, „irgendwann landen alle in der Bratpfanne! Was haben sie für ein Leben, wenn ihr grausames Schicksal schon jetzt feststeht?“

Und er sinniert weiter:

„Auch jeder Mensch weiß, dass er irgendwann sterben wird, da gibt es zum Tier keine Unterscheidung. Der Unterschied liegt im Bewusstsein dieses Wissens und in der Verantwortung daraus.

Die Hühner werden aufgezogen, damit man sie schlachten kann. Wenn es nicht den Wunsch gäbe, sie vor ihrer Zeit zu töten und zu verwerten, hätten unsere Hühner nie das Licht der Welt erblickt. Haushühner sterben früher als sie müssten, das ist alles. Aber das tun viele von uns Menschen auch.

In vielerlei Hinsicht haben unsere Hühner ein gutes Leben. Wenn das Wetter gut ist, wühlen sie im weichen Waldboden nach Würmern, Käfern und anderen Leckereien. Nachts haben sie ein geschütztes Zuhause in das sie immer gern und freiwillig zurückkommen. Wenn die Temperaturen im Herbst fallen und sie im Freien zu wenig Fressbares finden, versorgen wir die Hühner mit Kukuruz und anderer Nahrung und sie können die meiste Zeit im warmen Stall verbringen.

Sie müssen nie hungern, nie frieren und haben keinen Stress wegen feindlicher Raubtiere.

Sie müssen keine Schule besuchen, keine Aufgaben machen, keine Gesetze befolgen, keine Prüfungen ablegen.

Sie müssen keine Politik verstehen, keine Formulare ausfüllen, keine Steuern zahlen. Sie müssen nie zum Zahnarzt und haben nie Existenzängste. Niemand mischt sich in ihre soziale Struktur und ihre gesellschaftliche Ordnung. Und niemand bestraft sie, wenn sie einmal weniger Eier legen.

Unsere Hühner haben ein gutes Leben, für das sie frühzeitig mit eben diesem bezahlen.“

Die freie Natur ist nur für die Tiere ein Paradies, die in diese freie Natur hineingeboren werden. Und sie haben im täglichen Kampf ums Überleben tierischen Stress und werden im Normalfall irgendwann frühzeitig Teil der Nahrungskette.

Tiere aber, die in Gefangenschaft aufwachsen, müssen immer betreut werden, auch wenn es aussieht, als ob sie die Freiheit vorzögen – sie sind nicht in Freiheit geboren und daher auch nicht mit den erforderlichen Eigenschaften dafür ausgestattet.

Achtes Kapitel: Kinderschänder

Otto und Fritzi haben ein besonderes Interesse an dem Sozialverhalten der Hühner entwickelt. Sie beobachten stundenlang die Hühner auf der Wiese, im Wald oder im Hühnerstall und registrieren genau, wie sie untereinander kommunizieren.

Der Hahn zum Beispiel, ist der unumschränkte Herr unter den Hühnern, er allein bestimmt über die Richtung des Weges. Er behält sich auch vor, den anderen Leckereien wegzunehmen. Und wenn junge Hähne dabei sind, dann müssen sie ihm großräumig ausweichen, sonst fließt Blut. Überhaupt ist so ein Hahn nicht ungefährlich, der kann mitunter einen erwachsenen Menschen zu Boden werfen.

    Die Hennen untereinander haben eine genaue Rangordnung, die sie sich im Laufe ihres Lebens erkämpfen müssen. Und diese Rangordnung wird strikt befolgt.

Manchmal fängt Otto ein Huhn ein, von dem er weiß, dass es eine untergeordnete Rangordnung hat. Er nimmt dann das Tier am Hals und stößt mit dem Kopf gegen ein anderes Tier mit höherer Rangordnung. Das empfindet dieses Tier als Verstoß gegen ihre Gesellschaftshierarchie und stellt sich sofort dem Kampf.

      Besonders interessant sind Hühner die brüten, bzw. nach dem Schlüpfen der Küken. Ihr Verhalten ändert sich völlig, dann nehmen sie innerhalb der Hühnergemeinschaft eine Sonderstellung ein. Ihre Rangordnung hat dann keine Bedeutung mehr, sie bewegen sich zudem auch außerhalb der Hühnerschar. Und auch für den Hahn ist eine Gluckhenne absolutes Tabu.

Hühner, die Streit suchen, bzw. Rangordnungskämpfe austragen wollen, stellen zum Zeichen ihrer Aggression ihre Halsfedern auf. Gleichzeitig senken sie ihre Flügelspitzen so weit ab, dass diese fast am Boden streifen. Nimmt das gegnerische Huhn den Kampf an, so tut sie das ebenfalls und sie bekämpfen sich solange bis eine der beiden klein beigibt, also ihren „dicken Hals“ wieder einzieht. Mit dem Ergebnis des Kampfes ist eine neue Rangordnung hergestellt.

Bei Gluckhennen ist dieser „dicke Hals“ eine Dauerposition, zudem stellen sie nicht nur die Halsfedern auf, die Federn des ganzen Körpers werden aufgestellt, somit wirken sie deutlich größer und bedrohlicher. Gleichzeitig geben sie ein ständiges Glucken von sich, das ihren Kücken signalisiert wo sich ihre Mutter befindet, auch wenn sie sie gerade nicht sehen.

Richtig gefährlich können diese Gluckhennen werden, wenn sie mit ihren Jungen unterwegs sind. Wenn sie für ihre Jungen Gefahr zu erkennen glauben, dann greifen sie an, egal wie übermächtig der Gegner ist. Und alle Tiere respektieren das und weichen großräumig aus, selbst Hunde, Ziegen, Schafe und Rinder.

 Diesmal sieht auch Luisi gemeinsam mit seinen Brüdern den Hühnern zu.

„Die armen Tiere“, denkt er, „irgendwann landen alle in der Bratpfanne! Was haben sie für ein Leben, wenn ihr grausames Schicksal schon jetzt feststeht?“

 Und er sinniert weiter:

„Auch jeder Mensch weiß, dass er irgendwann sterben wird, da gibt es zum Tier keine Unterscheidung. Der Unterschied liegt im Bewusstsein dieses Wissens und in der Verantwortung daraus.

Die Hühner werden aufgezogen, damit man sie schlachten kann. Wenn es nicht den Wunsch gäbe, sie vor ihrer Zeit zu töten und zu verwerten, hätten unsere Hühner nie das Licht der Welt erblickt. Haushühner sterben früher als sie müssten, das ist alles.  Aber das tun viele von uns Menschen auch.

In vielerlei Hinsicht haben unsere Hühner ein gutes Leben. Wenn das Wetter gut ist, wühlen sie im weichen Waldboden nach Würmern, Käfern und anderen Leckereien. Nachts haben sie ein geschütztes Zuhause in das sie immer gern und freiwillig zurückkommen. Wenn die Temperaturen im Herbst  fallen und sie im Freien zu wenig Fressbares finden, versorgen wir die Hühner mit Kukuruz und anderer Nahrung und sie können die meiste Zeit im warmen Stall  verbringen.

Sie müssen nie hungern, nie frieren und haben keinen Stress wegen feindlicher Raubtiere.

Sie  müssen keine  Schule besuchen, keine Aufgaben machen, keine Gesetze befolgen, keine Prüfungen ablegen.

Sie müssen keine Politik verstehen, keine Formulare ausfüllen, keine Steuern zahlen.  Sie müssen nie zum Zahnarzt und haben nie Existenzängste. Niemand mischt sich in ihre soziale Struktur und ihre gesellschaftliche Ordnung. Und niemand bestraft sie, wenn sie einmal weniger Eier legen.

Unsere Hühner haben ein gutes Leben, für das sie frühzeitig mit eben diesem  bezahlen.“

 Die freie Natur ist nur für die Tiere ein Paradies, die in diese freie Natur hineingeboren werden. Und sie haben im täglichen Kampf ums Überleben tierischen Stress und werden im Normalfall irgendwann frühzeitig Teil der Nahrungskette.

Neuntes Kapitel: Kinderschänder

Es  ist Hochsommer des Jahres 1965.

 Die Buben spielen am Heuboden mit einer Katze.

Die Katzen der Familie sind, wie alle anderen Tiere auch, Nutztiere; das heißt sie müssen einen Zweck erfüllen, sich ihre Nahrung verdienen. Die Katzen sind dafür da, um Mäuse zu fangen, welche eine Bedrohung für die Lebensmittel- und Futtervorräte der Familie darstellen. Sie müssen den Sommer über Mäuse fangen, dafür werden sie über den Winter gefüttert. Deshalb kommen sie auch selten ins Wohnhaus und sind nicht sehr zutraulich. Ihr Jagdrevier sind die Bereiche des Stalles und der Heuboden, wo sie sich auch die kalte Jahreszeit über aufhalten. Die Kinder hätten gern auch einen Hund gehabt, doch die Mutter hatte diese Bitte abgelehnt. „Wozu sollte ein Hund für uns gut sein? Das wäre nur ein unnützer Fresser, den wir uns nicht leisten können!“

 Als Otto meinte, dass der Hund sie beschützen könne, hatte die Mutter geantwortet: „Wovor sollte uns der Hund beschützen? Vor Dieben, Einbrechern und Räubern? Bei uns gibt es doch gar nichts zu stehlen, außerdem haben wir genug Tiere, die jeden Eindringling sofort melden und verjagen würde. Allein unser Hahn würde locker mit zweien dieser Gestalten fertig werden!“  

  Jedenfalls sind die Katzen üblicherweise sehr scheu und lassen sich nicht leicht fangen.

Jetzt sind Otto, Luisi und Fritzi damit beschäftigt, mit einer zu spielen. Es ist eine junges, verspieltes Tier, es lässt sich darauf ein, hinter einem Stück Papier herzujagen, welches die Kinder an einer Schnur vor ihr herziehen.

 Plötzlich ruft die Mutter: „Kinder, das Mittagessen ist fertig!“

Die Buben wollen nach dem Essen mit der Katze weiterspielen; um zu verhindern, dass sie wegläuft, binden sie ihr die Schnur um den Hals  und das andere Ende an einen Pfosten im Heuboden.

Als sie vom Mittagessen zurückkommen, ist die Katze weg, nur ein kurzes Stück der Schnur ist noch da, festgebunden am Pfosten. Die Katze hat ihre Freiheit durch das Abbeißen der Schnur wiedererlangt.

Die Buben denken nicht weiter darüber nach und machen stattdessen eine Tour durch den Wald, um Wildtiere zu beobachten und um Beeren und andere Waldfrüchte zu suchen.

Als sie spät am Abend zurückkommen, wartet die Mutter bereits mit dem Teppichklopfer in der Hand auf sie. Ihre Körpersprache lässt Böses erahnen und die Kinder im Alter von 12, 11, und 10 Jahren beginnen vor Angst zu weinen.

„Unser Nachbar war hier. Er hat unsere Katze am Zaun hängend gefunden, mit einer Schnur um den Hals. Er hat mir vorgeworfen, ich ziehe lauter Verbrecher groß.

Er meinte, heute quält ihr Tiere, morgen vielleicht Menschen. Ich muss euch jetzt eine Lektion erteilen, die ihr hoffentlich nie vergessen werdet. Auch wenn ihr dem Tier kein Leid zufügen wolltet – ihr habt sie in Gefahr gebracht. Wenn der Nachbar sie nicht gleich gefunden hätte, dann hätte sie sich wahrscheinlich erdrosselt. Ich weiß, dass ihr die Katze dort nicht aufgehängt habt, ich weiß, dass die Katze die Schnur durchbiss und dann beim Überklettern von Nachbars Zaun, die am Hals verbliebene Schnur im Maschendraht hängenblieb.

Doch ihr habt grob fahrlässig gehandelt und dafür muss ich euch jetzt bestrafen. Auch wenn der Katze nichts passiert ist, ihr müsst lernen, Verantwortung für euer Handeln zu übernehmen!“

Damit fasst sie Otto mit einer Hand am Arm und drischt mit dem Teppichklopfer auf sein Hinterteil ein, während der Bub vor Schmerz laut aufschreit. Auch die beiden anderen schreien vor Angst. Sie wissen, dass die Mutter sie ebenso schlagen wird. Sie könnten zwar weglaufen, doch das würde ihre Situation noch viel mehr verschlimmern. Sie wissen, dass dann der Vater für Sanktionen herangezogen würde –  das würde mit Sicherheit für viele blaue Flecken sorgen, wie ihnen aus der Vergangenheit bekannt ist.

Nachdem auch Luisi seine Strafe erhalten hat, verschwindet er weinend am Heuboden. Er weiß, dass er oft schlimm und laut ist, dass er häufig mit den Brüdern rauft und streitet. Es macht ihm nicht viel aus, wenn er bei solchen Gelegenheiten eine Ohrfeige bekommt, denn dann hatte es einen Grund dafür gegeben. Doch jetzt war er sich keiner wirklichen Schuld bewusst, warum hatte ihn die Mutter so heftig bestraft?

Am Abend, als Luisi ins Bett gehen will, nimmt ihn die Mutter in den Arm. „Weißt du Kind, es fällt mir nicht leicht, euch zu schlagen. Ich glaube, meine Schläge haben mir mehr als euch geschmerzt. Aber ich muss aus euch verantwortungsbewusste Menschen machen, dazu sind manchmal auch Sanktionen nötig. Und eine gelernte Lektion ist immer so gut verankert, wie das Erlebnis, das mit ihr verbunden ist!“

 Eine Woche später sind die Kinder mit dem Vater im Gemüsegarten beschäftigt, der direkt an des Nachbars Zaun liegt. Der Nachbar steht an seiner Seite des Zauns und schaut bei der Gartenarbeit zu.

„Herr Nachbar, darf ich Ihnen etwas zeigen? Ich hätte gern Ihre Meinung dazu gehört, weil Sie von Wild-Tieren etwas verstehen!“
Der Nachbar ist beim Vater nicht sehr beliebt. Der guten Nachbarschaft wegen will er jedoch nicht unhöflich sein.

„Ja natürlich! Um was geht es denn?“

„Sehen Sie hier den Birnbaum? Jede Nacht verschwinden 2-3 Birnen vom Baum. Ursprünglich hatte ich schon Ihre Kinder verdächtigt, meine Birnen zu klauen. Doch die Birnen sind noch nicht wirklich reif, außerdem würde ich das sehen wenn sie über den Zaun klettern.“

Er führt den Vater zu einer Stelle des Zaunes, an dem ein Busch steht. Unter dem Strauch verläuft der Maschendrahtzaun und unter dem Zaun befindet sich eine Furche im Boden.

„Jetzt hab ich das hier entdeckt“, führt der Nachbar weiter aus, „das muss von einem Wildtier stammen, das hier durch das kleine Loch auf mein Grundstück gelangt! Was könnte das für ein Tier sein?“

Der Vater muss sich ein Lächeln verkneifen. Er dreht sich um und blinzelt seinen Buben zu, ohne dass der Nachbar es sehen kann.

„Wissen Sie“, meint er fachmännisch, „die Dachse heuer werden immer frecher. Die fressen Birnen besonders gern, außerdem sind  diese Dachse nachtaktive Tiere.

Aber wenn Sie wollen, dann kann ich ihnen ein Mittel besorgen, das diese Räuber von Ihren Birnen fernhält. Dafür müssten Sie mir aber einen Teil der geretteten Birnen überlassen!“

Zehntes Kapitel: Heiliger Abend

Es ist der 24. Dezember 1965. Schon zeitig in der Früh sind die Kinder aufgestanden und haben sich angezogen.

Heute ist Heiliger Abend, der Tag, an dem jedes Jahr erneut ein Wunder passiert.

In der Adventzeit hatten nicht nur die Kinder vier Wochen Zeit, sich auf dieses Ereignis einzustimmen. Es wurden Kekse gebacken, Reisig an allen nur möglichen Stellen in der Wohnküche platziert, auch auf die Herdplatte gelegt. Der Duft des Reisigs hatte während dieser Zeit den Raum vollständig ausgefüllt. Es wurden Weihnachtslieder gesungen, Weihnachtsdekoration gebastelt und es wurde versucht, ohne Streit auszukommen.

Für die Kinder war es auch die Vorfreude auf die zu erwartenden Geschenke, doch insgesamt ist es die innerliche, freudige Stimmung die das Weihnachtsfest so schön macht.

Die Freude über die Geburt Jesu, vor langer, langer Zeit. Ganz armselig war er in einer Futterkrippe in einem Stall zur Welt gekommen. Ohne Schnick-Schnack hatte er, der Sohn Gottes, als Mensch das Licht der Welt erblickt.

Diese Armseligkeit ist es, die diese Menschen so gut nachvollziehen können und dadurch diese große Verbundenheit zum Glauben haben.

In den Straßen und Geschäften ist von Weihnachtsbeleuchtung oder Dekoration nichts zu sehen. Lediglich in der Schule hängen in den Klassenzimmern Adventkränze. Auch in der Kirche hängt im Mittelschiff an der Decke ein riesiger Adventkranz mit überdimensionalen Wachskerzen. Und auch eine Krippe ist dort aufgestellt, mit großen Holzfiguren. Außerdem stehen neben dem Altar einige mit Engelshaar geschmückte Nadelbäume, die für Stimmung sorgen.

Luisi ist nun schon 11 Jahre alt, während des Jahres hat er zwar anderen gegenüber verleugnet ans Christkind zu glauben, zu Weihnachten aber ist er von seiner Existenz wieder zutiefst überzeugt.

Das Christkindl ist Religion für ihn, Teil des Glaubens für das man keine Beweise einfordern darf.

In seiner Vorstellung ist das Christkindl eine Mischung aus dem Jesus-Kind in der Krippe und einem Engel. Sein Christkindl ist aber ganz eindeutig weiblich, mit langen blonden Locken. Zum Unterschied von Engeln hat es nur kleine Flügelchen, doch es kann trotzdem durch die Lüfte schweben.

Am Heiligen Abend gehen die Buben immer mit dem Vater in den Wald, um die Futterstellen der Wildtiere aufzufüllen.

Die Familie isst schon recht früh zu Mittag. Anschließend packt der Vater Futter-Kastanien in einen Sack und die Buben bündeln einige Heuballen für die Fütterung und sie machen sich auf den Weg in den tiefverschneiten Wald.

Zu Weihnachten gibt es in der Regel viel Schnee, diesmal ist die Landschaft besonders weihnachtlich, denn es hatte heute Morgen zu schneien begonnen und es fällt immer noch dichter Schnee.

Der Vater kennt alle Futterkrippen in seinem Forstgebiet genau, er sieht an den Spuren der Tiere, welche von ihnen heute schon die Futterstellen besucht hatten. Gleichmäßig teilt der Vater mit den Kindern für alle Futterstellen das mitgebrachte Heu und die Kastanien auf.

Als sie ein Reh im tiefen Schnee mühsam durch das Unterholz ziehen sehen, sagt der Vater: „ Psst, leise! Dort sucht ein Reh nach Futter. Aber es ist auch gut möglich, dass das das Christkindl ist. Denn dieses nimmt oft die Gestalt eines Tieres an, um zu sehen, ob die Menschen gut zu den Tieren sind!“

Das Waldgebiet ist riesengroß, am späten Nachmittag kommen sie zu einer Stelle, an der eine Bauhütte steht. An deren Tür hängt ein Tannenzweig, an dem 4 Stück Schokolade baumeln. „Seht mal, hier war das Christkindl schon. Diese Schokolade hat es für euch hiergelassen!“

Luisi ist überwältigt von der Allwissenheit des Christkindls. Woher konnte es wissen, dass er mit seinen Brüdern hier vorbeikommen würde?

„Hier waren wir im Sommer schon, erinnert ihr euch?“, fragt der Vater die Kinder, nachdem alle auf einer Bank vor der Hütte Platz genommen hatten. „Hier wird im kommenden Sommer eine Autobahn gebaut! Diese Lichtung hier, die habe ich mit meinen Kollegen abgeholzt, damit die Straße gebaut werden kann!“

Luisi erinnert sich dunkel an die Begebenheit damals im Sommer. Sie waren im Wald Schwammerl suchen gewesen.

Der Vater hatte mitten im dichtesten Wald plötzlich gesagt: „Hier soll eine Autobahn gebaut werden!“

„Von hier“, der Vater hatte dabei auf einen Baum gedeutet, der vom Förster mit einer Farbmarkierung versehen worden war – dann waren sie sehr, sehr weit gegangen, für Luisis Begriffe fast einen Kilometer, „bis hierher wird die Straße gehen!“ Dabei hatte der Vater auf einen weiteren Baum mit Farbmarkierung gezeigt.

Luisi hatte das nicht verstanden: „Wieso soll eine Straße von einer Stelle mitten im Wald zu einer anderen Stelle mitten im Wald gehen? Das macht doch keinen Sinn, eine Straße muss doch irgendwohin führen, wo Autos fahren können!“

Der Vater hatte gelacht und gemeint: „Dieses Stück, das wir jetzt gegangen sind, das wird auch nicht die Länge der Straße sein, sondern deren Breite. Das wird nämlich eine Autobahn, da werden tausende Autos am Tag darüberfahren.“

Das aber hatte Luisi auch nicht verstanden. Woher in aller Welt sollten tausende Autos hier mitten im Wald herkommen? Und wohin – bitteschön – sollten die fahren wollen?

Jetzt aber ist aus dem finsteren Wald eine Lichtung geworden. Eine Lichtung die soweit reicht, dass deren Ende und Anfang nicht zu sehen ist.

     Das ist ein Moment in Luisis Leben, in dem er fest daran glaubt, dass das Christkindl das regeln würde. Dass das Christkindl so eine breite Straße hier in diesem wunderschönen Wald bestimmt nicht haben wolle. Vielleicht war es deshalb hier vorbeigekommen, um zu sehen was die Menschen hier für einen Unsinn anstellen?

Doch das Christkindl hat es nicht geregelt, nicht in diesem Jahr und nicht im nächsten.

Irgendwann sehr viel später war dann die Autobahn fertig und von irgendwoher sind dann auch wirklich tausende Autos gekommen und irgendwohin gefahren. Wenn Luisi sehr viel später an der Brücke über der Autobahn stand und hinuntersah auf den endlosen Strom der Fahrzeuge, dachte er stets: „Wo fahren diese vielen Menschen eigentlich alle hin? Haben sie denn keine Familie, warum gefällt es ihnen zu Hause nicht? Vor wem oder was fliehen sie alle und warum?“

Es ist schon dunkel, als der Vater mit den Buben nach Hause zurückkommt. Ungeduldig müssen die Kinder noch das Abendessen abwarten.

In der Zwischenzeit hatte die Mutter mit der 15-jährigen Helen den Weihnachtsbaum geschmückt. Helen ist schon fast erwachsen und für die Mutter eine große Hilfe. Nicht nur, dass sie immer auf ihre kleinen Geschwister aufpasst, kontrolliert sie auch die Aufgaben der Kinder, sobald diese zur Schule gehen.

Darüberhinaus ist sie so etwas wie ein Puffer zwischen den lebhaften und bisweilen schlimmen Buben und der strengen Mutter. Allerdings hat sie es dabei nicht leicht, denn die Buben streiten zwar untereinander oft so heftig, dass die Fetzen fliegen, geht es jedoch gegen die große Schwester, sind sie sich schnell einig. Ja, und dann wird gemeinsam an ihren Zöpfen gezogen und gekniffen und getreten…

Doch heute wird nicht gestritten. Sobald der Vater mit den Buben zurück ist darf niemand mehr das Zimmer betreten, in dem das Christkindl den Weihnachtsbaum aufstellen wird. Das wird im neuangebauten Zimmer sein, das Helens Zimmer geworden war.

Dieses Zimmer ist jetzt für die Buben absolutes Tabu, denn das Christkindl könnte gestört werden – und wenn es gestört wird, verschwindet es ohne Geschenke zu hinterlassen. Die Buben müssen sich in der Stube aufhalten und kontrollieren sich gegenseitig, damit das Christkind keinen Grund zum Flüchten hat.

Irgendwann nach dem Essen verschwindet die Mutter dann im Zimmer, um für das Christkindl Platz zu machen.

Bald ist das Läuten einer hellen Glocke zu hören, so wie es das Christkindl immer macht, wenn es ihre Arbeit beendet hat.

Alle warten noch einen Moment, dann wird die Tür zum Zimmer geöffnet. Dieser erste Blick auf den geschmückten Weihnachtsbaum ist überwältigend.

Jahrzehnte später verbindet Lui immer noch Weihnachten mit diesem ersten Blick, mit dem Anblick des beleuchteten Weihnachtsbaumes und dem Geruch der brennenden Wachskerzen, mit dem frischen Tannengeruch, mit den wenigen Goldhaaren, die das Christkind verloren hatte, mit der Ehrfurcht vor dem augenscheinlichen Wunder.

Nach einem Weihnachtslied und einigen Gebeten dürfen die Kinder ihre Geschenke auspacken. Es sind keine überragende Geschenke, jedoch für jedes der Kinder etwas zum Spielen, ein Buch zum Lesen oder ein Kleidungsstück.

Der Heilige Abend ist der einzige Tag im Jahr, an dem die Kinder soviel naschen können wie sie wollen. Was zur Folge hat, dass anschließend immer jemandem schlecht ist.

Um 23 Uhr ist Christmette. Etwas nach 22 Uhr ziehen sich Helen, Otto, Luisi und Fritzi an und gehen mit der Mutter den 3 km weiten Weg in die Kirche. Die Straße ist unbeleuchtet, nur das Weiß des Schnees lässt schemenhaft die Konturen der nächtlichen Winterlandschaft erkennen. Es hat aufgehört zu schneien, dafür ist es bitterkalt geworden. Sie müssen mehr als 1km durch den tiefen Schnee waten, bis sie an eine Straße kommen die geräumt ist.

Otto und Luisi sind bei dieser Mette vom Pfarrer als Ministranten eingeteilt worden.

Während die Mutter mit den beiden anderen Kindern vorne bei der Kirche eintreten und im kalten, unbeheizten Kirchenschiff Platz nehmen, betreten Otto und Luisi die Kirche durch die Sakristei. Der Pfarrer ist schon da, schnell ziehen sich die beiden Buben ihre Ministrantenkluft über. Der Pfarrer trifft noch Anweisungen zum Ablauf der Hl.Messe. Schnell wird noch die Glut im Weihrauchkessel angeblasen, dann betreten sie, gefolgt vom Pfarrer den Altarraum…

Gegen Ende der Mette, als der Pfarrer die Stufen zur Kanzel emporsteigt, nehmen Otto und Luisi seitlich vom Altar auf einem Hocker Platz. Oben angekommen, beginnt der Pfarrer mit seiner Predigt:

„Vor fast 2000 Jahren, als Kaiser Augustus eine Volkszählung durchführen ließ, musste sich der Zimmerer Josef mit seiner Frau Maria vom Wohnort Nazaret nach Betlehem begeben. Dorthin, wo Josef geboren war, denn die Zählung musste am Geburtsort des Mannes durchgeführt werden.

Seine Frau Maria war zu dem Zeitpunkt hochschwanger und nachdem sie vergeblich nach einer freien Herberge gesucht hatten, setzten bei ihr die Wehen ein. Niemand gewährte ihnen Einlass, niemand hatte Mitleid mit den Beiden. Erst ein mittelloser Hirte, selbst ohne festen Wohnsitz, erbarmte sich. Er bot Josef und Maria den Stall seiner Tiere als Unterschlupf an.

Dort, zwischen Ochs und Esel, im Stroh des Stalles, brachte die Jungfrau Maria ihr Kind zur Welt. Es war ein Sohn, der Sohn Gottes und Josef nahm ihn als seinen Sohn an.
Behutsam legten sie das neugeborene, unschuldige, kleine Kind in die Futterkrippe und betteten es in Heu. Und ein Stern leuchtete plötzlich am Himmel, ein Stern der den Hirten der Umgebung den Weg zu dem kleinen Kind zeigte. In Scharen strömten sie herbei und alle die das Kind sahen, wussten, es war ein Wunder geschehen. Selbst 3 Könige aus dem Morgenland kamen, um dem Kind zu huldigen…“

Seine Predigt endete mit den Worten: „…damals, vor 2000 Jahren hat man Hilfesuchenden in Not die Zuflucht verweigert.

Lernen wir daraus und machen wir es heute besser!“

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