Die Lüge

von Walter Pilhar

Ländliche Geschichte über das Warten auf den Weihnachtsmann

Weihnachten: Weihnachtsmann und Rudi Rentier
Weihnachtsmann Geschichte geeignet für Kinder ab 7 Jahren und für die ganze Familie

 

Es war Heiligabend in dem Jahr, in dem ich in die Schule kam. Nachdem ich mich dort ein dreiviertel Jahr langweilte, wurde es in den Tagen vor Weihnachten interessant, denn es wurde über den Weihnachtsmann diskutiert. Während der siebenjährige Fred und der achtjährige Achim darüber lachten, dass einige noch an den Weihnachtsmann glaubten vertraten Sonja und ich die Auffassung, dass es ihn gäbe. Sonja hatte ihn bereits mehrmals gesehen, erzählte sie. Ich war mir jedoch nicht sicher. Meine Mutter erzählte Geschichten vom Weihnachtsmann ihrer Kindheit, mein Vater vom Christkind, das eher ein Mädel war. Ferne Freunde freuten sich über einen Santa Claus, der wohl eher der Nikolaus war und andere feierten Weihnachten erst Anfang Januar. Ich hatte große Zweifel.

Es war ein sehr kalter Winter. Meine Großmutter sah sich einen Heimatfilm an, als meine Eltern begannen, den Weihnachtsbaum zu schmücken. Die Fenster waren von Eisblumen überzogen. Ich rubbelte mir ein kleines Loch hinein um zu sehen, was draußen geschah. Es geschah nichts. Es schneite immer noch. Der Schnee lag schon fast einen halben Meter hoch. Der Wind hatte eine Schneewehe vor den Schuppen aufgetürmt.

„Geh doch mal hinaus“, sagte meine Großmutter, „es wird noch lange dauern bis der Weihnachtsmann kommt. Ja, dachte ich, sie hat recht. Aber dann kommt er sicherlich wieder gerade dann, wenn ich nicht hier bin, wie in den letzten Jahren auch. Ich hatte den Weihnachtsmann noch nie gesehen, obwohl ich mich im letzten Jahr auf dem kalten Flur lange auf die Lauer gelegt hatte. Während ich das dachte zog ich mich an, nahm meinen Schlitten und ging den einsamen Weg neben der Eisenbahn zu dem kleinen Wäldchen ‚Gerd sin Fuhrn‘. Dort gab es einen kleinen Hügel, auf dem man mit dem Schlitten zwanzig Meter bergab fahren konnte. Der Weg war wegen des hohen Schnees beschwerlich. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Bis auf das Knirschen meiner Winterschuhe im Schnee war kein Laut zu hören. Wie unser Haus lag auch ‚Gerd sin Fuhrn‘ weit vom Dorf entfernt und die Bauern kamen nur Sommer dorthin, um morgens und abends zu melken und im Herbst das Heu einzufahren. Nun war ich allein auf dem Weg und trat die erste Spur des Tages in den Schnee.

 

Kurz bevor ich an dem kleinen Wäldchen ankam, sah ich weiter hinten ein Licht. Keine Lampe, sondern ein fremdes, rötlich flackerndes Licht, das ich bisher noch nie gesehen hatte. Ich ging an dem kleinen Wald vorbei, um es mir aus der Nähe anzusehen. Der Wind fuhr zwischen die kahlen Zweige. Auf dem schmalen Feldweg gab es noch mehr und höhere Schneewehen als vorher. Kurz hinter der Brücke über dem Entwässerungskanal, den alle den ersten Kanal nannten, hatte ich eine Schneewehe zu überwinden, die größer war, als ich selbst. Um mir das Vorhaben zu erleichtern, ging ich ganz rechts, am Rand des Weges und versuchte, vorsichtig durch die hohen Schneemassen hindurch zu waten. Auf einmal verlor ich den Halt unter meinen Füßen. Ich rutschte in den Graben und spürte, wie sich mein rechter Fuß zwischen dicken Ästen verkeilte. Durch die Bewegung löste sich der Schnee von dem großen Busch über mir und fiel auf mich herab.

Einen Moment lang fand ich das ganz lustig doch als es mir auch mit der grüßten Kraftanstrengung nicht gelang, meinen Fuß herauszuziehen, bekam ich Angst. Ich dachte an Kai aus dem Märchen „die Schneekönigin“, wie er fror, als er im Eispalast gefangen war. Ich hätte rufen können, doch wer sollte mich hören? Das nächste Haus war einen halben Kilometer entfernt und bei dem Wetter würde kein Mensch draußen sein. Ich versuchte es trotzdem und rief zaghaft „Hilfe!“, –  „Hilfe!“. Nein, das hatte keinen Zweck. Ich begann, den Schnee um meine Beine mit den Händen wegzuschaufeln. Die Handschuhe, die meine Mutter im vorigen Jahr gestrickt hatte, waren naß und hart von dem Frost; doch ich fror nicht. Ich hatte mich warm genug angezogen und auch meine Angst schien mir eine gewisse Hitze zu bereiten.

Ich konnte es nicht einschätzen, wie viel Zeit schon vergangen war. Die Dämmerung senkte sich bedrohlich über die Wiesen, als ich das Licht wieder entdeckte. Es kam auf mich zu. Bald erkannte ich zwei Pferde, die bis auf eine leise klingende Glocke lautlos einen großen Schlitten über den Schnee zogen, der aussah, wie eine Kutsche. „Brrrrr“ sagte der alte Mann, als er sein Gefährt auf der anderen Seite der Schneewehe zum stehen brachte. Er war steinalt, hatte tausende von Falten, wo man sein Gesicht noch zwischen seinem dichten und langen weißen Vollbart sehen konnte. Er sah aus wie der Weihnachtsmann auf den Bildern. „Na, mein Junge“ sprach er mich an, „müsstest du nicht längst zuhause sein um mit deinen Eltern vor dem Weihnachtsbaum zu sitzen?“ 

„Ja“, antwortete ich schüchtern, „aber ich bin abgerutscht und komme aus dem Loch nicht mehr heraus.“ Behäbig stieg er, gestützt mit einem Schäferstab, von seinem Schlitten ab, fiel vor mir auf die Knie und grub den Schnee um meine Beine zur Seite, an den ich nicht mehr gelangte. „Wohin wolltest du an Weihnachten bei dieser Kälte?“ fragte er mich und sah mich sehr freundlich an. Ich erklärte ihm, dass ich das schöne Licht von seinem Schlitten sah und sehen wollte, was sich dahinter verbarg. „So ein Interesse ist immer gut, aber auch gefährlich, wie du selbst gelernt hast,“ antwortete er. „Bist du der Weihnachtsmann?“ fragte ich zaghaft. Er schien mich nicht zu hören. Mit großer Mühe riss er den fest angefrorenen Ast an die Seite und befreite meinen schon taub gewordenes Bein. Ganz langsam erhob er sich mit Hilfe seines Schäferstabes und half mir dann, aufzustehen. Ich musste mein Bein einige Male kräftig schütteln, bis ich das Gefühl fand, wieder sicher auf den Beinen zu stehen. „Ja,“ sagte er, „ich bin der Weihnachtsmann. Doch es ist nicht so, wie es überall erzählt wird. Ich bringe nicht jedem Kind Geschenke oder die Rute, sondern nur ganz wenigen. Denen, die ganz allein sind, oder sehr krank. Und nun habe ich gar nichts mehr, denn ich bin schon fertig mit meiner Reise.“

„Aber ich habe doch immer Geschenke bekommen“, bemerkte ich schüchtern. „Ja sicherlich, aber die haben dir deine Eltern und deine Großmutter unter den Baum gelegt. Und weil sie das Geheimnis nicht verraten wollten, haben sie dir erzählt, das käme alles vom Weihnachtsmann, weil du so lieb warst. Aber das warst du schließlich nicht immer.“ „Das weißt du?“ zweifelte ich. „Ja natürlich. Ich weiß genau, dass du zwei Tage nicht in der Schule warst, im Sommer, nachdem du dich mit einem Jungen aus deiner Klasse geschlagen hattest. Und ich weiß auch, dass du deiner Mutter eine Mark aus ihrem Portemonnaie gestohlen hast. Aber du hast es gleich bereut, das weiß ich auch.“

Mir war heiß und kalt, tiefe Röte war mir ins Gesicht gezogen und ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. „Hier“, sagte er und hielt mir die Hand hin, „hier habe ich doch noch etwas für dich. Und nun mach dich auf dem Weg, es ist noch weit und es ist gleich dunkel.“ Er gab mir einen Stein in der Form eines kleinen Sternes. „Danke“ sagte ich brav und nahm meinen Schlitten und ging, ihm noch einmal zuwinkend zurück nach Hause. Der Weihnachtsmann fuhr mit seinem Schlitten über die Schneewehe, und bog, ohne eine Spur zu hinterlassen, kurz vor mir auf die Wiese ab. Die Dämmerung war schon so schwer, dass ich ihn nicht mehr lange sehen konnte. Nur das Licht schwankte über dem Schnee und wurde immer kleiner.

Meine Eltern und meine Großmutter warteten schon auf mich, als ich in hereinkam und mir auf der Diele die schweren Schuhe auszog. Wir aßen zusammen Würstchen und Kartoffelsalat. Danach sollte es die Bescherung geben, doch irgendwie freute ich mich nicht mehr darauf. Sie hatten mich all die Jahre angelogen. Als wir dann aber ins Wohnzimmer gingen, war ich aber doch wieder sehr aufgeregt. Es war dunkel, nur der Schein der vielen Kerzen am Weihnachtsbaum beleuchteten den Raum auf eine zauberhafte Weise. Er war mit Kugeln, allerhand Süßigkeiten und silbernen Lametta schön geschmückt. Während ich diese Eindrücke auf mich einwirken ließ, schenkten sich die Erwachsenen ein Glas Wein ein uns wünschten einander ein schönes Weihnachtsfest. „Nun packe doch deine Geschenke aus“, sagte meine Mutter und ich machte mich daran, die zwei Pakete vorsichtig von ihrer Umhüllung zu befreien. Im ersten war ein rot-weiß gestreifter Pullover. Na klasse, dachte ich und sagte brav danke. Ich musste ihn gleich anprobieren und er passte, wie alles, was mir meine Mutter bisher gestrickt hatte.

Natürlich! Jetzt fiel es mir auf einmal ein. Natürlich hat meine Mutter den Pullover gestrickt und niemals der Weihnachtsmann. Im zweiten Paket waren einige Päckchen mit Legosteinen, um meine Bauvorhaben an kalten Nachmittagen zu unterstützen. „Na, hat dir der Weihnachtsmann das richtige gebracht?“ fragte mein Vater. „Danke, es ist schön“, sagte ich, „doch ich weiß jetzt, dass es von euch ist und nicht vom Weihnachtsmann. Nachdem mich alle drei sichtbar entsetzt ansahen, fragte meine Mutter „wie kommst du denn darauf?“ Ich habe ihn eben getroffen. Hinter Gerd sin Fuhrn habe ich ihn getroffen und er hat mir alles erklärt. „Wer?“ fragte Großmutter. „Der Weihnachtsmann,“ sagte ich wahrheitsgemäß. „Nein!“ sagte sie nur, und mein Vater sagte auch „nein“. Nach einer Pause, die mir vorkam wie eine Ewigkeit, fuhr mein Vater fort: „Nein, das kann nicht sein. Kein Kind, das an ihn glaubt, wird ihn jemals zu Gesicht bekommen, und wer nicht an ihn glaubt, noch weniger. Ich denke, du hast dir wieder eine Phantasiegeschichte ausgedacht und flunkerst uns an.“

„Nein, nein“, verteidigte ich mich energisch. Ich lüge nicht. Wer all die Jahre gelogen hat, wart ihr. Ich dachte daran, ihnen den Sternenstein zu zeigen, um zu beweisen, dass ich Recht hatte, doch ich ließ es sein. Wir beendeten das Thema , sangen gemeinsam ein Weihnachtslied und dann spielte ich mit den neuen Legosteinen, während sich die Erwachsenen unterhielten und der weihnachtlichen Musik aus dem Radio zuhörten.

Das ist lange her, doch ich muss  immer dann daran denken, wenn jemand behauptet, es sei nicht wahr gewesen, was ich sagte. Das hieß mit anderen Worten, ich würde lügen. Und ich denke auch gerade dann daran, dass mich ausgerechnet diejenigen belogen, die mir die Lüge unterstellten. Ich hatte nicht einen Moment gelogen damals. Ich hatte ihn nicht nur gesehen und mit ihm gesprochen, sondern er hat mir vielleicht mein Leben gerettet. Wäre er mir damals nicht zur Hilfe gekommen, wäre ich vielleicht erfroren. Den Stein habe ich noch bei mir und glaube immer noch an den Weihnachtsmann.

Walter Pilhar ©

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