…
Schutzengel für Toby
Octavia Bender
Bewegende Hunde Weihnachtsgeschichte
Eine rührende Kurzweihnachtsgeschichte über einen Labradormischling für alle Hundefreunde, ab ca. 8 Jahre.
Nach dem eisigen Frost der vergangenen Wochen war es heute fast mild. Dafür trieb ein heftiger Westwind dunkle Wolken über den Nachmittagshimmel. Alle Hoffnung auf eine weiße Weihnacht zerplatzte innerhalb von wenigen Stunden wie eine Seifenblase und deutete eher auf ein Fest bei schmuddelig trübem Regenwetter hin.
Der vierzehnjährige Bastian trottete mit eingezogenem Kopf am Fuße des Flusses entlang. Toby sauste lebhaft um ihn herum. Manchmal ließ der schwarze Labradormischling ein kurzes munteres Bellen ertönen, so als wolle er sein Herrchen aus seinen offenbar trüben Gedanken herausholen. Doch es gelang ihm nicht wirklich. Eifrig jagte der Hund den vom Wind aufgewirbelten Blättern nach, kehrte wieder zu Bastian zurück, bellte ihn schelmisch an, ließ sich kurz klopfen und machte sich wieder auf den Weg zu neuen Erkundungen.
Wäre sein Paps jetzt beim nachmittäglichen Spaziergang dabei, dachte Bastian, dann würde es ihnen allen viel mehr Spaß machen. Aber Paps war nicht mehr da. Es war Bastians erstes Weihnachtsfest ohne seinen Vater. Letztes Jahr um diese Zeit waren sie zu Dritt diesen Weg entlang gelaufen, während Mama letzte Vorbereitungen für den Heiligabend traf. Toby war noch fast ein Welpe gewesen, oder eher ein schlaksiger Halbstarker, der zu allen Untaten bereit mit blitzenden Augen vor ihnen her stürmte. Paps hatte dem jungen Hund mit liebevoller Strenge wenigstens die wichtigsten Manieren beigebracht, bevor….
Bastian seufzte. Letztes Jahr um diese Zeit war seine Welt noch in Ordnung gewesen. Aber dann im Frühjahr war sein Paps krank geworden, sehr krank. Er konnte sich genau daran erinnern, wie seine Eltern ihm beizubringen versuchten, dass Paps nicht mehr lange leben würde. Aber – und das war damals unheimlich wichtig für Bastian gewesen – sein Vater hatte ihm klar gemacht, dass er immer, auch wenn es nicht so scheinen mochte, bei ihnen sein würde. Die ersten Wochen nach seinem Tod hatten sie ihn alle sehr vermisst: seine Mutter, der inzwischen erwachsene Toby und er selbst, Bastian. Trotzdem hatte er immer gemeint, die Nähe seines Vaters fühlen zu können.
Doch so wie die Monate vergingen, verflüchtigte sich auch dieses Gefühl. Ob sein Paps in der anderen Welt so beschäftigt war, dass er ihn, seine Mutter und Toby inzwischen vergessen hatte? Trotz aller Versprechungen? Bastian seufzte. Er bückte sich zu Toby hinunter, der wie angewurzelt vor ihm stehen blieb.
„Ist schon gut, Toby“, murmelte Bastian und kraulte den Hund an der Brust, wo er es so gerne hatte. Der fuhr ihm mit der Zunge übers Gesicht, so dass Bastian lachen musste. Er wischte sich über die Wange und war sich nicht sicher, ob seine Hand so feucht war von Tobys Liebesbezeugung oder vielleicht eher von Tränen.
„Komm“, forderte Bastian den Hund auf, „lass uns mal nachsehen, wie die Welt von oben aussieht!“ Sie stürmten gemeinsam den Deich hinauf. Toby bellte, Bastian keuchte etwas, als sie oben ankamen. Es war Flut. Das Eis, welches sich in den letzten Tagen und Wochen aufgrund des starken Frostes an den Flussrändern gebildet hatte, knarrte leise. Risse durchzogen die Schicht. Hier und da brachen große Stücke ab und wurden mit der sanften stetigen Strömung weggetragen.
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Während Bastian und Toby auf der Deichkuppe in nördlicher Richtung weiterliefen, trieben immer mehr dicke Eisschollen auf die Einmündung der sich kreuzenden zwei Wasserläufe zu. Sie sammelten sich an der Biegung und bildeten eine bizarre Landschaft in dem sonst offenen Gewässer. Die Strömung hatte dem Frost an dieser Stelle ein Schnippchen geschlagen und sich durch die ständige Bewegung nicht zu Eis erstarren lassen.
Während Bastian erneut in Gedanken an ein Weihnachtsfest ohne seinen Paps versunken weiterlief, tollte Toby auf der Suche nach neuen Entdeckungen munter weiter. Schließlich drehte Bastian um. Hocherfreut über die Aussicht auf sein Abendessen sauste Toby bellend voraus. Ihm war warm geworden vor lauter Herumtoben. Und er wäre nicht ein wirklicher Labradormischling, hätte er nicht zur Abkühlung eben noch ein Bad in Erwägung gezogen oder zumindest ein paar Schluck Wasser am Rande des Flusses. Vehement sauste er bis zur Kante, wo normalerweise Gras und Wasser aufeinander stießen. Mit vollem Schwung traf er auf die marode Eisschicht, schlitterte ein Stück über ein paar aneinandergepresste Eisschollen und landete schließlich mit einem lauten „Platsch!“ im Wasser.
„Toby?!“ Bastian schreckte aus seinen Gedanken hoch und sah sich suchend um. „Toby!!!“, rief er und Panik ergriff Besitz von ihm. Er rannte die Deichkuppe entlang bis hin zur Biegung. Da, Toby bemühte sich auf eine dicke Eisscholle hinaufzuklettern. Doch vergebens. Er rutschte immer wieder ab. „Oh, bitte nicht“, flüsterte Bastian, „bitte, lass ihn nicht ertrinken.“ Dann riss er sich zusammen. Wie konnte er Toby helfen? Aufmuntern!
„Komm, Toby“, rief er dem Hund zu, „du schaffst das! Los, hopp, probier es noch einmal!“ Doch so sehr der Hund sich auch bemühte, er fand keinen Halt. Schließlich harrte er bewegungslos mit den Vorderpfoten auf dem Rand der Eisscholle aus und sah Bastian mit großen, dunkelbraunen Augen erwartungsvoll an. Sein Fell, überlegte der Junge, sein Fell wird sich immer voller saugen. Es wird immer schwerer werden und ihn schließlich herunterziehen.
Suchend sah er sich um. Ausgerechnet heute war keine Menschenseele am Deich unterwegs. Niemand, der ihm helfen konnte.
Wenn er nun mit den Füßen die Eisschollen auseinanderschieben würde, so dass Toby dazwischen hindurch ans Ufer schwimmen könnte…. Nein, dabei lief er Gefahr, dass Toby weiter hinaus getrieben würde. Außerdem schoben die übrigen Eisschollen die entstandene Öffnung gleich wieder zu.
Schließlich hatte er einen Einfall: die Leine!
Er legte sich auf den Bauch, tastete sich vorsichtig so weit nach vorne, dass er den Halt nicht verlor und warf Toby ganz sachte die Leine zu. „Beiß in die Leine, Toby“, munterte er den Hund auf, „komm schon, pack die Leine! Dann kann ich Dir helfen und dich hochziehen.“
Aber Toby verstand nicht. Vertrauensvoll blickte er zu seinem Herrn auf, die Pfoten weiterhin am Rande der Eisscholle. „Du machst das schon“, schienen seine dunklen Kulleraugen zu sagen. „Wie, Toby? Aber wie???“, schluchzte Bastian. Er robbte noch ein Stück weiter auf die schwankende Scholle hinauf. Ab jetzt wurde es für ihn selbst gefährlich. Aber er konnte doch Toby nicht einfach seinem Schicksal überlassen…
Und dann, dann ging alles auf einmal ganz schnell. Toby unternahm einen weiteren Versuch und wie durch unsichtbare Hand stand er triefend nass auf der schwankenden Eisscholle, seine Pfoten rutschten unsicher über das Eis, aber Bastian bekam ihn zu fassen und zog ihn vorsichtig rückwärts robbend ans Ufer. „Toby! Mein Toby!“, schluchzte Bastian und umarmte das pitschnasse Bündel – ungeachtet der Folgen – so als wolle er ihn nie wieder loslassen.
Der Hund quietschte leise protestierend, drehte den Kopf etwas zur Seite. Das war ihm nun doch etwas zu viel Nähe. „’tschuldigung!“ Bastian lockerte seine Arme und gab das Tier frei. Er wusste, er sollte den Hund nicht so bedrängen – hatte Paps ihm doch beigebracht. „Aber ich freue mich doch so!“, rief er aus und klatschte in die Hände. „Komm, Toby! Rennen, damit du wieder warm wirst!“ Mit diesen Worten sauste Bastian die Anhöhe zur Deichkuppe hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Der Hund umsprang ihn ausgelassen, als wäre nichts geschehen. Ab und zu schüttelte er sich vehement, so dass immer wieder Wassertropfen in alle Richtungen spritzten. Bastian joggte in flottem Tempo in Richtung Zuhause. Er hatte nur einen Gedanken: Toby war gerettet, wenn vielleicht auch etwas unterkühlt. Aber es war gutgegangen! Dank einer unsichtbaren, helfenden Hand war sein Toby aus einer ausweglosen Situation herausgekommen. Ein dankbares Lächeln breitete sich über sein Gesicht: Er wusste, wem diese helfende Hand gehörte. „Danke Paps“, flüsterte Bastian, „danke, dass du immer bei uns bist!“ Und das galt auch für den ersten Heiligabend danach.
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