Weihnachten

Traudl Wirsing

Mit der scheinbar banalen Frage „Was bedeutet euch Weihnachten?“ wendet sich ein Lehrer an seine Schulklasse und erhält unerwartete und erstaunliche Antworten….
Eine Weihnachtsgeschichte nicht nur für junge Leute. Ab ca. 10 Jahre.

Schnee Fenster

Der Raum war erfüllt von lebhaftem Stimmengewirr. Jemand
hatte die weit ausladenden Fensterflügel geöffnet. Eisige, von
winzigen Schneekristallen durchsetzte Luft fegte herein und ließ
die jungen Leute eilends in Jacken und Mäntel schlüpfen.

„Bin gespannt, welches Thema er heute vorgibt!“

Florian Mayers Diskussionsrunden hatten in den letzten Jahren
einen beachtenswerten Ruf erreicht. Nicht nur hier am
Gymnasium, sondern weit über die Stadt-und Landkreisgrenzen
hinaus kannte und schätzte man den unkonventionellen und
engagierten Pädagogen.

„Wir werden es gleich erfahren, da ist er ja schon!“

Begeisterter Applaus brandete auf, als ein großer, schlaksiger Mann mittleren Alters in das Klassenzimmer stürmte und die vollzählig versammelte zwölfte Klasse begrüßte.

„Danke, Leute! – Unsere letzte Diskussionsrunde vor den Weihnachtsferien, wie üblich zeitlich leider eng begrenzt.
Deshalb wollen wir auch gleich loslegen…“
Ein wenig verlegen kratzte er sich hinterm Ohr. „Die heutige Themenstellung wird Euch möglicherweise etwas verwundern, aber ich meine, wir sollten es trotzdem versuchen.“

„Nur Mut!“, quietschte jemand. „Wir stellen uns auch schlüpfrigen Fragen.“ Johlendes Gelächter.

Florian Mayer grinste. „Einander Mal gerne! Nur müsst Ihr mir dann vorab genügend Zeit geben, um mich auf diesem, mir bis dato völlig unbekannten Gebiet ernsthaft vorbereiten zu können.“

Die Klasse tobte.
„Also, Ruhe jetzt. – Ich gebe unser heutiges Thema bekannt.
Es lautet: „Was bedeutet Euch Weihnachten? Was verbindet Ihr mit Weihnachten? Weihnachten – was ist das?“
Stille im Raum.
„Ach nee …!“, ließ sich schließlich eine frustrierte Stimme vernehmen.
Rundherum Kopfschütteln und enttäuschte Gesichter.
„Doch nicht dieses abgedroschene Seniorenabend-Gequatsche!“
„Nun ja, wenn jeder dazu bereits eine fundierte Meinung hat, sind wir ganz schnell durch mit dem Bagatellthema und können vielleicht noch ein wenig über das weltpolitische Geschehen diskutieren.“
Von der Ablehnung, die ihm unisono entgegenschlug, schien er keineswegs irritiert zu sein.
„Dann mal los! -Was denkt das künftige Bildungsbürgertum über eine altehrwürdige Tradition wie Weihnachten?“

„Ich denk mir, dass Weihnachten echt Scheiße ist!“
Wildes Gelächter und Buhrufe. Alle reckten die Köpfe nach einem leicht übergewichtigen jungen Mann, der breitgrinsend auf seinem Stuhl schaukelte.

„Hat unser Klassenclown doch gleich mal einen richtigen Brüller gelandet.“ Über Florian Mayers Nasenwurzel bildete sich eine steile Falte. „Ich dachte, über dieses Niveau wären wir längst hinaus.““Jaaa.“
Oliver wirkte ein wenig beschämt, fasste sich aber gleich wieder. „Hey Mann, Sie wissen ja aber auch nicht, wie vollkrass Weihnachten bei uns abläuft! -Da kommt die komplette Verwandtschaft zusammen und die ganze Nachbarschaft. In einer konzertierten Aktion fallen die bei uns ein wie die Heuschrecken und vernichten gnadenlos alles, was irgendwie ess- oder trinkbar ist!“
Die Klasse kugelte sich vor Lachen.
„Wie jetzt?“, fragte Florian Mayer amüsiert. „Kommt da jeder aufs Geratewohl oder gibt´s doch irgendwie vorher eine Einladung?“
„Schon.“ Oliver ließ seine Augäpfel rotieren.
„Natürlich laden meine Oma und meine Mama alle ein. Mein Pa muss auch irgendwie mitmachen, wenngleich nicht ganz freiwillig. -Aber dann geht´s bei uns tagelang ab wie auf einem Volksfest, und meine Geschwister und ich schleppen massenhaft Getränkekisten und bedienen die Herrschaften. Von wegen Fest
des Friedens und der Besinnlichkeit …!“

„Oh, davon könntest Du bei uns mehr als genug kriegen!“
Energisch hatte die sonst eher schüchterne Verena Olivers Redefluss unterbrochen.
„Weihnachten bei uns ist ziemlich bizarr. Es beginnt schlagartig mit dem ersten Advent. Dann verfällt meine Mutter in einen Modus, den man am treffendsten als persistierendes euphorisches Harmoniebestreben bezeichnen könnte. In diesem Erregungszustand wird dann das ganze Haus von unten bis oben masterplanmäßig durchdekoriert. Adventskränze, Engelsgeschwader und eine vollständige Containerladung Kerzen, beleuchtete Rehlein und singende Weihnachtsmänner.
Jeden Tag wird gebacken und gebastelt. Weihnachtslieder und Weihnachtsmedleys jeglicher Kategorie von morgens bis abends.
Sogar die üblichen Streitereien zwischen meinen Eltern werden von meiner Mutter mit fragwürdiger Diplomatie bereits im Ansatz gecancelt.“

„So ein trautes Heim kann einen wirklich fertig machen“, ulkte jemand aus den hinteren Reihen.
„Ähh, also ich finde, Weihnachten ist ein großartiges Fest und hat für mich eine enorm wichtige Bedeutung!“ Dieser Satz kam von Max.
Erstauntes Gemurmel.
„Aha.“ Der Lehrer war aufgesprungen und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. „Inwiefern?“
„Nun, ich meine halt, an Weihnachten gibt es eine Menge Geschenke und Annehmlichkeiten, schulfreie Tage und Skiurlaub. Ich habe einige Onkel und Tanten, die selber keine Kinder haben. Ersatzweise werde dann ich beschenkt. Klar gibt´s noch was von Oma und Opa und natürlich auch von den Eltern.
Erstaunlicherweise verläuft der Festtagsmarathon auch immer ziemlich harmonisch, weil sämtliche Reizthemen in dieser Zeit konsequent ausgespart werden. Und ein Freund von meinem Vater spendiert uns immer eine Woche Urlaub in seinem Berghotel. Das ist echt geil!“

„Echt geil, also. Die Bedeutung von Weihnachten: echt geil!“
Florian Mayer wandte der Klasse den Rücken zu. Hatte er sich von diesen jungen Menschen nicht ganz andere Beiträge erwartet?
Während die meisten betretene Blicke tauschten, meldete sich Erol zu Wort: „Meine Familie kommt aus der Türkei, wir sind alle Muslime. Somit ist die Weihnachtszeit für uns keine religiöse Erfahrung, sondern lediglich eine kulturelle. Denn im Islam ist Jesus nur ein Prophet, nicht aber Gottes Sohn. Dennoch
hat meine Familie die weihnachtlichen Gepflogenheiten übernommen, vor allem die kommerziellen. Heißt: Wir schmücken einen Weihnachtsbaum, konsumieren
Weihnachtsplätzchen und Stollen und tauschen Geschenke …“
„Das ist bei uns genau so“, fiel ihm Nena ins Wort. „Meine Eltern sind tamilische Hindus aus Sri Lanka. Hindus verehren Jesus als Avatar der göttlichen Liebe. Wir feiern immer schon im Zeitraum Oktober bis November das Diwali-oder Lichter-Fest. Dieses kann aufgrund seiner spirituellen wie auch seiner sozialen
Bedeutung und seiner Fröhlichkeit mit dem christlichen Weihnachten durchaus verglichen werden.“

„Also, für mich hat Weihnachten eine ganz andere Bedeutung als für all jene, die sich bislang zu Wort gemeldet haben.“
Patricia war aufgestanden und wandte sich mit ernster Miene an die Klasse: „Meine Eltern haben sich schon immer sozial engagiert, aber seitdem mein Vater die Kinderstation im hiesigen Klinikum leitet, hat dies einen noch viel höheren Stellenwert bekommen. Während der Advents-und Weihnachtszeit
verbringen meine Mutter und ich fast jede freie Minute auf der Station oder wir sammeln Spenden für die Kinder. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn schwerkranke Kinder, vollgepumpt mit Medikamenten, zu schwach, um aufrecht sitzen zu können, darauf warten, dass jemand kommt, der sich um sie kümmert, der sie aufmuntert und in den Arm nimmt …“ Patricia´s Mundwinkel zuckten. „Und dann erst an Heiligabend! … Es ist ja nicht so, dass alle Kinder
Familienmitglieder haben, die für sie da sind. Manche sind an Weihnachten ganz allein … Da ist soviel Leid … Es erfüllt einen mit … Demut und Dankbarkeit, wenn man selbst gesund ist und eine wunderbare Familie hat. Helfen zu können, gerade an
Weihnachten, ist für mich eine große Freude.“

„Ich weiß, was Du meinst, Patricia.“
Felix erhob sich ebenfalls und zog dabei auch seinen Banknachbarn mit hoch. „Stefan und ich sind seit letztem Jahr in der Nachbarschaftshilfe tätig. Und auch hier sind wir besonders in der Advents-und Weihnachtszeit gefordert. Aber die tiefe und ehrliche Dankbarkeit der Leute -das geht einem schon richtig nahe.“

Florian Mayer klopfte den Burschen anerkennend auf die Schultern. „Großartig, Jungs! Und alle Achtung, Patricia!“
Eine kurze Pause entstand, in der der Lehrer seinen Gedanken nachzuhängen schien. Dann die Frage: „War da nicht noch was, Leute?“

„Weihnachten ist eines der drei Hauptfeste des christlichen Kirchenjahres. An Weihnachten wird die Geburt Christi gefeiert.“
Wie von einem vielstimmigen Chor kam die Antwort prompt und präzise.

Lächelnd und mit einer angedeuteten Verbeugung zollte Florian Mayer der Klasse Respekt. „Perfekt auswendig gelernt!“

Marina räusperte sich: „In meiner Familie hat der christliche Glaube eine tiefe Bedeutung, was uns aber nicht davon abhält,
uns stets kritisch mit der Kirchenlehre und dem Klerus auseinanderzusetzen.“
Spontane Zwischenrufe. Marina ließ sich jedoch nicht irritieren, vielmehr erklärte sie entschlossen:

„Weihnachten ist für uns das schönste Fest im ganzen Jahr, weil wir soviel Freude und Fröhlichkeit empfinden.
Wir Christen feiern die Geburt von Gottes Sohn, unseren Heiland.
Dass die nicht-christlichen Familien von Erol und Nena unser Weihnachtsfest auf ihre Weise mitfeiern, finde ich wunderbar, denn das ist ein Zeichen unserer engen Verbundenheit.
Für mich ist es jedes Jahr aufs Neue ergreifend, wenn meine ganze Familie zusammenkommt und wir gemeinsam unterm Christbaum Weihnachtslieder singen und miteinander die Zeit verbringen. Da wünsch ich mir immer, dass das auf Dauer so bleiben möge. Und dass es diese Harmonie, diese Liebe und diesen Frieden auch in den Familien unserer Freunde und Verwandten geben sollte. Und nicht nur dort, sondern überall auf der ganzen Welt.
Gerade an Weihnachten wird mir bewusst, wie dankbar wir doch alle sein müssen. Wir dürfen in Freiheit und Frieden leben! Dass das absolut nicht selbstverständlich ist, davon zeugen die vielen Krisen-und Kriegsgebiete in der Welt.
Deshalb sollte uns vor allem das Weihnachtsfest ein Ansporn sein, unseren ganz persönlichen Beitrag für den Frieden der Menschheit, für den Frieden in der Welt zu leisten.“

In der Klasse war es still geworden.
Florian Mayer nickte Marina anerkennend zu.
Er war stolz auf diese jungen Menschen. Auf alle, denn er wusste, dass jeder von ihnen ähnlich dachte und ähnlich empfand, selbst wenn sich einige mit übertriebener Oberflächlichkeit wappneten, um sich so vor vermeintlichen Sentimentalitäten oder auch vor Bekenntnissen bezüglich ihres Glaubens oder ihrer Gefühle zu schützen. Auch diejenigen, die anderen Religionen angehörten, wünschten sich Frieden und Fröhlichkeit -und natürlich ein harmonisches Familienfest.

„Nun, meine Lieben, ich danke für Eure interessanten Beiträge zum heutigen Thema und werde Euch diesmal statt der sonst üblichen Zusammenfassung und Abwägung einen ganz persönlichen Ratschlag mit auf den Weg geben:

Als künftige Ehe-beziehungsweise Lebenspartner und als Eltern der nächsten Generation liegt es in Eurer Verantwortung, Weihnachten einen ganz eigenen Stellenwert zu geben. Ihr entscheidet, wie weit dieser von religiösen und/oder kommerziellen Aspekten geprägt sein wird. Jeder einzelne von Euch kann viel dafür tun, dass Weihnachten ein Fest der Freude und ein Fest des Friedens sein kann.

In diesem Sinne wünsche ich Euch allen besinnliche und harmonische Weihnachtsfeiertage.“

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